Von den Orakelknochen zum I Ging: Historisches

Lassen Sie uns mit den historischen Wurzeln des I Ging beginnen – und die liegen bekanntermaßen im alten China. Dort war Wahrsagerei eine verbreitete Praxis und tief in das kulturelle und spirituelle Gefüge der Gesellschaft eingewoben. Die Menschen suchten nach Antworten und Orientierung und beobachteten deswegen Zeichen, interpretierten Symbole und befragten Orakel.

Wahrsagerei mit Orakelknochen während der Shang-Dynastie

Eine der frühesten Formen der Wahrsagerei wurde mit Hilfe von Orakelknochen durchgeführt und lässt sich bis zur Shang-Dynastie (ca. 1600-1000 v. Chr.) zurückverfolgen. Für die Orakelknochen wurden Schulterblattknochen von Opfertieren verwendet, meist von Rindern, später auch die Brustpanzer von Schildkröten. Die Orakelknochen wurden jeweils sorgfältig ausgewählt, gereinigt und bearbeitet, um eine möglichst plane Fläche zu erreichen. In die so entstandene Platte wurde dann eine rituell festgelegte Anzahl von Löcher in einem bestimmtem Muster gebohrt und die Platte anschließend, d.h. während der Befragung, so lange erhitzt, bis sich Risse und Sprünge bildeten. Nach welchem System diese Risse dann letztendlich interpretiert wurden, konnte jedoch bis heute nicht entschlüsselt werden.

Inhaltlich ging es bei den Befragungen um das künftige Wetter, die Ernte, das Schicksal von Mitgliedern der königlichen Familie, um militärische Unternehmungen und Jagdglück, um Ahnenangelegenheiten oder auch um günstige Termine für Opferungen. Die Befragungen hatten oft auch eine politische Dimension, denn die Shang-Herrscher legitimierten sich z. B. dadurch, dass sie fähig waren, mit den Ahnen bzw. mit der höchsten Gottheit zu kommunizieren – beispielsweise mit Hilfe von Orakelknochen.

Genaue Dokumentation der Befragungen

Inzwischen wurden bei archäologischen Grabungen etwa 150.000 Orakelknochen gefunden, auf vielen von ihnen finden sich frühe chinesische Schriftzeichen. Auf einigen der Orakelknochen sind neben einem Vor- und Nachwort auch Ort und Datum der Befragung genannt, der Name des Orakelpriesters, Informationen über Fragestellung, Anzahl der entstandenen Risse samt deren Beschreibung, eine Vorhersage, sowie deren nachträglichen Überprüfung auf Richtigkeit. Diese genaue Dokumentation der Befragungen und auch die Tatsache, dass sich auf den Orakelknochen immer wieder Zahlensymbole finden, zeigen, dass die Praxis der Orakelbefragung sehr systematisch erforscht wurde und man v. a. an der Kunst der Fragestellung gearbeitet hat.

Die Inschriften auf den Orakelknochen enthalten etwa 5.000 verschiedene Zeichen, von denen bisher allerdings nur etwa 1.200 sicher identifiziert werden konnten.

Entstehungsgeschichte des I Ging

Es ist nicht eindeutig geklärt, ob die Inschriften auf den Orakelknochen als Ursprünge des I Ging zu sehen sind, oder aber ob das I Ging – eine Methode der Orakelbefragung mit Hilfe von Schafgarbenstengeln – zeitgleich mit dem Knochenorakel Anwendung fand, also bereits zur Shang-Zeit zum Einsatz kam.

Entstehungsgeschichtlich werden die ältesten Teile des als Textus receptus überlieferten I Ging jedenfalls auf das 8. Jh. v. Chr. datiert und bestehen aus einer Sammlung von Orakelvokabular, altem Liedgut und traditionellen Volksweisheiten, die von einem oder möglicherweise auch mehreren Autoren zusammengestellt wurde.

Verbindlichkeit des Textmaterials

Diese schriftliche Fixierung des mündlich tradierten Materials ist insofern bemerkenswert, als die chinesische Sprache eine Besonderheit aufweist: Gesprochener Text ist beim Anhören viel- und mehrdeutig und verschlüsselt auf diese Weise jeden Sinngehalt automatisch. Da die Autoren des schriftlichen Textmaterials dieses Phänomen in ihrer Niederschrift sicherlich berücksichtigt haben, sollten folglich bei der Interpretation eines (schriftlich fixierten) Textes sowohl die bildliche Ausdruckskraft des Schriftzeichens wie auch die assoziativ bei der Aussprache entstehenden Mehrdeutigkeiten und Bedeutungsvariationen beachtet werden.

Bedenkenswert ist ferner auch, dass zwischen der ersten schriftlichen Fixierung der ältesten Teile des überlieferten I Ging (8. Jh. v. Chr.) und der Herstellung der Steintafeln, die die Steinklassiker bilden (175 n. Chr.), etwa 1000 Jahre liegen. Was ist in dieser Zeit mit dem (schriftlichen) Textmaterial passiert? Gab es vielleicht Textvarianten? Welche sozio-kulturellen oder auch politischen Gründe führten zur Auswahl eben jenes Materials, das schlussendlich zum Textus receptus wurde?

Inzwischen gab es verschiedene archäologische Funde, 1972 in Mawangdui und 1977 in Shuanggudui, die Abschriften des I Ging zu Tage förderten. Sie sind z.T. weitaus älter als der bisher bekannte Textus receptus und weisen v. a. auch bedeutende Abweichungen vom bekannten Text auf. Es lässt sich daher wohl zu Recht die Frage stellen, wie richtig und verbindlich eigentlich das uns als I Ging vorliegende Textmaterial (Textus receptus) ist. (S. auch ausführlicher Artikel zu Textus receptus.)