I Ging: Orakelsystem oder Kosmologie?

Was ist das I Ging eigentlich?

Wie wir im vorangegangenen Kapitel gesehen habe, liegen die Anfänge des I Ging in einer Orakelpraxis, die mit Hilfe von Orakelknochen und später auch Schafgrabenstängeln durchgeführt wurde. Im Lauf der Zeit wurde aus der reinen Anwendungspraxis eine systematisch dokumentiertes System: Die Orakelpriester vermerkten auf den Orakelknochen neben der Fragestellung noch weitere Eckdaten der Befragung, sie beschrieben die entstandenen Risse und die daraus abgeleitete Vorhersage, und notierten eine rückblickende Überprüfung auf Richtigkeit. Auf diese Weise wurde aus einem kombinatorischen Orakelspiel ein kombinatorischen Orakelsystem.

Ist das I Ging ein Orakel oder eine Kosmologie?

Ganz grundsätzlich bezeichnet der Begriff Kosmologie ein interdisziplinäres Gebiet, in das Erkenntnisse aus Physik, Astronomie, Mathematik, Philosophie und anderen Wissenschaften einfließen. Ziel ist es, unser Verständnis des Universums zu erweitern. In diesem Sinne fragt die Physik beispielsweise nach der Entstehung, der Struktur, der Entwicklung des Universums, seiner Galaxien und Sterne, oder untersucht die Möglichkeit von Leben. Philosophische Fragestellungen wiederum betreffen Existenz und Zweck des Universums und einzelner Entitäten, die Frage, ob es einen Schöpfer oder eine höhere Ordnung gibt, oder welche Rolle und welcher Platz dem Menschen innerhalb dieser Weltordnung zukommt.

Das I Ging ist zugleich Orakel UND Kosmologie

In diesem Sinne kann man das I Ging tatsächlich (auch) als Kosmologie verstehen, denn es fußt auf einer Philosophie, die die Welt, ihre Entstehung und ihr Vergehen, als Zusammenspiel von Yin und Yang, von Sein und Nichtsein, erklärt. Hinter der polaren Dualität von Yin und Yang wiederum verbirgt sich ein einheitliches Urprinzip, aus dem aller Wandel hervorgeht, das selbst aber nicht der Veränderung unterworfen ist: das Dao.

Lama Anagarika Govinda hat diesen Sachverhalt hier sehr treffend zusammengefasst: Die innere Struktur des I-Ging

Was für eine Art von Orakel ist das I Ging?

Bevor wir uns der o.g. Frage widmen, lassen Sie uns einen kurzen Blick auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Wahrsagen und Weissagen (eine Unterscheidung, die so nur in der deutschen Sprache gemacht wird) werfen.

Sowohl Weissagen wie auch Wahrsagen bezeichnen eine Handlung, die in der Übermittlung von Informationen besteht, deren Ursprung außerhalb des menschlichen Alltagsbewusstseins oder des wissenschaftlichen Kenntnisstandes liegt. Wenn wir die eigene weltanschauliche oder wissenschaftliche Positionen außer Acht lassen, könnten wir diesen Ursprung der übermittelten Informationen vielleicht relativ neutral als „von einer höheren Instanz aus“ oder „von einer höheren Warte“ oder auch „aus dem Unbewussten/Vorbewussten“ beschreiben.

Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit gibt es zwischen Weissagen und Wahrsagen aber auch einige Unterschiede:

  • Die Weissagung ist inhaltlich eher allgemein, sie erfolgt spontan und setzt mediale bzw. seherische Fähigkeit voraus. Vor allem aber ist sie transpersonal, d.h. sie geht inhaltlich über persönliche Ebene des Fragenden/Mittlers/Mediums und über weltliche Ereignisse hinaus.
    Beispiele für Weissagungen sind prophetische Verkündigungen aus der Bibel oder auch die Weissagungen des Nostradamus.
  • Die Wahrsagung hingegen antwortet stets auf eine persönliche, konkrete Fragestellung, was die Aussage zeitlich, räumlich oder in Bezug auf die betroffenen Personen eingrenzt. Im Lauf der Jahrhunderte haben sich unterschiedlichste Methodiken der Wahrsagung entwickelt: Phantasiereisen, Pendeln, Kartenlegen, Bleigießen, Astrologie etc.

Die Schwierigkeit der Wahrsagetechniken liegt darin, die im Rahmen der Methodik durch den „Zufall“ erhaltenen Zeichen zu deuten.

  • Binäre Systeme wie der Münzwurf („Kopf oder Zahl“) sind dabei einfach zu verstehen, weil keine weitere Interpretation erforderlich ist.
  • Bei kombinatorischem Systemen wie z. B. Tarotkarten kommt jeder einzelnen Karte Eigenbedeutung zu, zugleich muss sie aber in Beziehung zu den sie umgebenden Karten interpretiert werden.
  • Eine dritte Kategorie sind systematisierte (objektivierende) kombinatorische Systeme wie z. B. die Astrologie. Grundlage bildet ein System, das die Beziehung der einzelnen Elemente zueinander in einem festen Regelwerk abbildet, in der Astrologie beispielsweise die Tierkreiszeichen, Planetenkonstellationen und Häuser. Das zugrundeliegende Regelwerk bewirkt, dass die durch den „Zufall“ zustande gekommene Ausgangssituation (in der Astrologie z. B. der Zeitpunkt der Geburt ) rational fassbar ist, zugleich bleibt aber noch genügend Raum für Interpretation, beispielsweise die Anwendung der systematischen Schlussfolgerungen auf die individuelle Situation des Fragenden.
Binäre SystemeKombinatorische SystemeSystematisierte kombinatorische Systeme
BeispielMünzwurfTarotAstrologie, I Ging
Weg der AussagefindungFrage
→ Zufall
→ Aussage
Frage
→ Zufall plus Interpretation
→ Aussage
Frage
→ Zufall plus Regelwerk plus Interpretation
→ Aussage
Vergleich unterschiedlicher Wahrsagemethoden

Das I Ging als ein systematisiertes kombinatorisches (Wahrsage-)System

Ähnlich der Astrologie ist auch das I Ging ein systematisiertes kombinatorisches (Wahrsage-)System, das auf Regeln basiert und bei dem der Zufall eine wichtige Rolle spielt. Zugleich bietet es im Rahmen einer individuellen Interpretation Raum, um die allgemeine, regelbasierte Aussage jeweils der persönlichen Situation und dem kulturellen Kontext des Fragenden anzupassen – wobei der Erkenntnisgewinn in hohem Maße von der Qualität der Interpretation bzw. den intuitiven Fähigkeiten des Interpretierenden abhängt.