I Ging: Die unverständlichen Antworten des Textus receptus

Im vorangegangen Artikel haben wir gesehen, dass man die Antworten des I Ging als Mitteilungen unseres Selbst an unser Ich begreifen kann: Unsere Selbst-Sonne spricht mit Hilfe von orientierungsstiftenden Bildern zu uns, um uns, unser weltgestaltendes Ich, zu leiten.

Was aber, wenn wir die Antwort des I Ging, wie sie uns im klassischen Buch der Wandlungen gegeben wird, nicht verstehen?

Zunächst einmal: Wir befinden wir in guter Gesellschaft. Selbst C.G. Jung berichtet über Schwierigkeiten:

Schon bevor ich ihn [R. Wilhelm] kennenlernte, hatte ich mich mit östlicher Philosophie beschäftigt und hatte etwa 1920 angefangen, mit dem I Ging zu experimentieren. […] Die Methode selber ist leicht und einfach. Die Schwierigkeit beginnt aber, wie schon gesagt, bei der Auswertung des Resultates. Vor allem ist das Verständnis der Symbolik auch mit Hilfe der trefflichen Kommentare Wilhelms keine ganz einfache Sache. Je mehr Kenntnisse der Leser in der Psychologie des Unbewußten besitzt, desto leichter wird ihm diese Arbeit fallen.

Jung, 635 bzw. Clarke, 162 und 170.

Diese Worte von C.G. Jung sind ein für mich persönlich tröstlicher Kommentar. Denn mir selbst ging es nicht anders, ich war mit den klassischen Deutungstexten immer eher unglücklich. Nicht zuletzt auch deswegen fing ich ca. 2008 an, mich intensiver mit dem I Ging zu beschäftigen: Ich wollte Zugang zu den Symbolen bekommen, sie direkt lesen könne, ohne den Umweg über die Deutungstexte.
Das Resultat ist das vorliegende.

Warum fällt es den meisten von uns so schwer, die Originaltexte des I Ging, die uns als seit nahezu 3000 Jahren unveränderter Textus receptus vorliegen, zu verstehen? Die Antwort, die ich für mich gefunden habe, lautet: Weil sie uns fern sind, weil mit uns, unserer Lebensituation und Lebensweise, unserem Hier und Jetzt nur sehr wenig zu tun haben.

I Ging: Kosmologie, Methode und Deutungstext

Lassen Sie uns das I Ging noch einmal ganz systematisch betrachten. Grundsätzlich lassen sich drei Aspekte voneinander unterscheiden:

  • die dem I Ging zugrundeliegende Kosmologie,
  • die Methode, um die Antwort des Orakels zu bestimmen und
  • die Deutungstexte, die uns im Textus receptus überliefert sind.

Die Kosmologie, die dem I Ging zugrunde liegt

Kosmologische Grundlage des I Ging mit seinen Hexagrammen aus durchgezogenen (Yang) und durchbrochenen (Yin) Linien ist der Daoismus, den das I Ging in seiner Ausgestaltung wiederum bebildert: Aus dem unbewegten und ungetrennten Dao entstehen die Gegensätze von Yin und Yang, aus denen wiederum alle weiteren Dinge hervorgehen – im I Ging sind dies die 64 Hexagramme.

Diese Grundlage, die Idee eines all-einen Ursprungs, ist für mich auch als Europäerin nachvollziehbar. Sie lässt mich an Aristoteles‘ unbewegten Bewegers denken, der Thomas von Aquin später zu seinem sog. kosmologischen Gottesbeweis inspirierte. Zwar haben die griechischen Philosophen die anschließende Erschaffung unserer vielgestaltigen Welt in anderen Kategorien beschrieben, aber die grundsätzliche Idee eines ungeteilten und unbewegten Ursprungs verbindet beide Vorstellungswelten.

Mein Fazit: Die dem I Ging zugrundeliegende Kosmologie, ein daoistisch geprägtes Weltbild, bereitet mir ich keine Schwierigkeit, ich finde sie viel eher vertraut und inspirierend.

Die Orakelmethode des I Ging

Das antwortgebende Hexagramm kann beim I Ging auf unterschiedliche Weise – mit Hilfe verschiedener Orakelmethoden – bestimmt werden. Den historischen Anfang bildete wohl das Knochenorakel, später (möglicherweise aber auch bereits zeitgleich) war das Schafgarbenorakel im Einsatz; häufig wird das I Ging auch als Münzorakel bestimmt.

Mein Fazit: C.G. Jung schreibt: „Die Methode selber ist leicht und einfach“. Dem ist wenig hinzuzufügen. :)

Die klassischen Deutungstexte des I Ging im Textus receptus

Bleiben als Quelle möglicher Schwierigkeiten die Deutungstexte, die uns im Textus receptus überliefert sind. Um wiederum mit C.G. Jung zu sprechen: Es ist „keine ganz einfache Sache“, das Buch der Wandlungen, dieses Regelwerk mit seinen Bildworten und Urteilen, zu verstehen.

Weiter oben haben wir gesehen, das es sich beim I Ging ganz grundsätzlich um ein systematisiertes kombinatorisches System zur Wahrsagung handelt, also um ein System mit einem festen Regelwerk, das die Beziehung der einzelnen Elemente zueinander festlegt und dadurch die Deutung vereinfacht. Ein vergleichbares System in unserem kulturellen Kontext ist beispielsweise die Astrologie.

Der Sinn eines derartigen Regelwerkes ist es, dem Fragenden den Zugang zur Antwort des Orakels zu erleichtern, indem die „Rohfassung“ der Antwort zunächst einmal mit Hilfe der Regeln ganz grundsätzlich rational fassbar gemacht wird; die anschließende Interpretationsaufgabe besteht lediglich darin, diese regelhafte Antwort auf die individuelle Situation des Fragenden anzuwenden.

Die Frage lautet nun: Inwieweit erfüllen die Deutungstexte des Buch der Wandlungen, die uns als Textus receptus überliefert sind, diesen Anspruch? Erleichtern sie es uns, mir, die Antwort des Orakels zu verstehen, machen sie uns/mir diese Antwort rational fassbar?

Meine persönliche Antwort lautet: Leider nein. Ich kann mit den regelhaften Deutungstexten wenig anfangen. Oder, um es genauer zu formulieren: Die Deutungsexte des Buchs der Wandlungen geben mir unverständliche Antworten anstatt mir kluge Fragen zu stellen, die mich tiefer dringen lassen. Und verschließen auf diese Weise die Türen, die sie mir eigentlich öffnen sollten, damit ich die Antworten, die mein Selbst an mein Ich sendet, verstehen kann.

Warum verschließen die Deutungstexte des I Ging die Türen zum Verstehen eher als dass sie sie öffnen?

Vielleicht kann man diese Frage mit einem einzigen Satz beantworten: Weil das – das Tor zu eigenen Inneren, zum tiefen Kontakt zu sich selbst, zum wirklichen, wahrhaftigen, tiefen Verstehen zu öffnen – wahrscheinlich gar nicht die Absicht ist, die hinter diesen Texten steckt.

Für die Langversion der Antwort gilt es, ein wenig weiter auszuholen. Und sich zunächst nochmal in Erinnerung zu rufen, dass der Textus receptus seit etwa 3000 Jahren unverändert überliefert wird. Damit ist er nicht nur räumlich und zeitlich, sondern auch kulturell sehr weit von unserer Lebenswirklichkeit entfernt.

Chinas Herrscher wollten ein Einheitsreich zu schaffen

Fragt man nach den Gründen für diese Praxis einer unveränderten Überlieferung, landet man schnell bei der Geschichte Chinas: Der Geschichte eines Vielvölkerstaates, dessen Herrscher danach strebten ein Einheitsreich zu schaffen. Einer der Wege, auf denen sie versuchten, dieses Ziel zu erreichen, war, die wild wuchernde Vielfalt der Diskurse und Traditionen zu bändigen.

Im 2. Jh. v. Chr. geschah dies beispielsweise durch Synkretismen, also künstlich erzeugte Lehren, die Religionen oder religiösen Traditionen miteinander vermischten:

Nachdem die kämpfenden Staaten politisch vereint und Denker unterschiedlichster kultureller Prägung im Zentrum des Reichs zusammengekommen waren, verbanden sich die einst konkurrierenden „Hundert Schulen“ zu neuen Synthesen: die passende geistige Form für ein Zentralreich, in dem regionale Unterschiede aufgehoben waren.

Vogelsang, 156-157.

Eine dieser Synthesen ist beispielsweise der Konfuzianismus. In Bezug auf das I Ging ist dieser Aspekt insofern interessant, als dass Teile des I Ging (genauer: die Zehn Flügel) traditionell Konfuzius zugeschrieben werden. Tatsächlich ist aber das, was traditionell als Konfuzianismus gilt, eine künstlich geschaffenes Lehrgebäude, das mit den tatsächlichen Lehren des historischen Konfuzius wohl eher wenig zu tun hat:

Der Konfuzianismus der Han-Zeit war nicht mehr die Lehre einer sich wandelnden Adelsgesellschaft, wie Konfuzius sie vor Augen hatte, sonder die Legitimation des Beamtenstaates. [… Der] Konfuzianismus war die Ideologie eines bürokratischen Absolutismus […] Die Propagierung des Konfuzianismus, der heute so selbstverständlich als Inbegriff chinesischer Weisheit gilt, war in der Han-Zeit ein politisches Manöver, um Vertreter anderer Lehren aus dem Ämtern zu drängen. Sie war eine Hofintrige unter vielen…

Vogelsang, 160.

Es ist heute wohl unmöglich zu sagen, welche von den Texten, die Konfuzius zugeschrieben werden, tatsächlich von ihm stammen. Das Textmaterial, das sich mit Konfuzius und seinen Lehren beschäftigte, Lehrtexte und Kommentare anderer Philosophen, war über die Jahrhunderte hinweg stetig angewachsen. In der Han-Zeit (ca. 200 vor bis 200 nach Chr.) wurde dieser wild wuchernden Vielfalt ein abruptes Ende bereitet: Aus dem gesamten philosophischen Material wählte man fünf sehr heterogene Texte aus – u. a. das I Ging – und erklärte sie zu kanonischen Texten; verschiedene Dynastien ließen den Kanon später als sog. Steinklassiker mehrfach in Stein meißeln. (Vgl. Vogelsang, 162-163.)

Dieser Textkanon hatte ab dem Zeitpunkt seiner Festlegung normativen Anspruch, d.h. er allein verkörperte die Werte der Gesellschaft und v. a. die Wahrheit. Alle anderen Texte wurden zurückgedrängt bzw. ihre Verwendung unter Strafe gestellt. Zugleich bedeutete diese Kanonisierung, dass die Texte selbst nicht mehr geändert werden konnten, denn per Definition war der Kanon vollständig und ewig gültig. Die einzige Möglichkeit für neue Inhalte oder aktuelle Wirklichkeitsbezüge waren Gelehrtenkommentare. (Vgl. ebd.)

Über die Jahrhunderte veränderte sich die Anzahl der im Kanon erhobenen Werke immer wieder, im 13./14. Jh wurde er schließlich auf vier Bücher reduziert. Während der nun folgenden 600 Jahre dienten diese vier Bücher u.a. als Basis für Beamtenprüfungen, ihre Funktion war aber nach wie vor dieselbe: die Gleichschaltung des Diskurses in einem riesigen, zentral regierten Einheitsreich. Nachdem 1905 das Prüfungssystem abgeschafft worden war, brach wenig später das Kaiserreich endgültig zusammen. (Vgl. ebd.)

Angesichts dieser Historie wird klar, dass die Inhalte, die uns als I Ging im Textus receptus überliefert sind, für das chinesische Volk eine Art identitätsstiftendes Nationalheiligtum sind. Dies wiederum erklärt, warum die spektakulären Funde von Mawangdui (1972) und Shuanggudui (1977) von chinesischen Forschern bisher eher zurückhaltend aufgenommen werden und inhaltliche Unterschiede zwischen den historisch älteren Versionen des I Ging in den Funden zum zeitlich jüngeren Textus receptus v. a. als Lehn- oder Fehlschreibungen abgetan werden: Der Standarttext des I Ging ist als kanonische Schrift ein über jeden Zweifel erhabenes Dokument. (Vgl. Hertzer, 87-99.)

Quellenverzeichnis

— Clarke, J. J. 1997. C. G. Jung und der östliche Weg. Zürich: Walter.
— Jung, Carl Gustav. 1963. Bd. Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. Rascher.
— Hertzer, Dominique. 1996. Das Alte und das neue Yijing. Die Wandlungen des Buches der Wandlungen. München: Diederichs.
— Vogelsang, Kai. 2012. Geschichte Chinas. Stuttgart: Reclam.

Weiterlesen