I Ging: Alles Zufall?

Woher kommen eigentlich die Antworten des I Ging?

Wie hängen Frage und die scheinbar zufällige Antwort des I Ging zusammen?

Wie ist es möglich, dass das sechsmalige Werfen von drei Münzen (oder eine andere Orakeltechnik) zu einer sinnvollen Antwort auf eine gestellte Frage führt? Sind zufällige Ergebnisse nicht vollkommen beliebig? Welche Bedeutung hat der Zufall? Und wie lässt sich die Sinnhaftigkeit solch zufälliger Ereignisse – wie z.B. eine Orakelantwort – erklären?

Mit kausal-linearem Denken, das unsere westliche, von den Naturwissenschaften geprägte Weltsicht auszeichnet, sind diese Frage nur schwer zu beantworten. Allerdings ist eine Welt, die ausschließlich auf kausal-linearen Zusammenhängen basiert, zwangsläufig eine deterministische, bei der jedes Geschehen seit dem Urknall feststeht und die keinen Raum für unseren menschlichen freien Willen und unser freies Handeln lässt.

So gesehen ist Zufall kein Einfallstor für Irrationalität oder Beliebigkeit, sondern viel mehr die Vorbedingung für unser Menschsein mit freiem Willen und Handlungsverantwortung – inklusive der Möglichkeit, dass wir durch unser Handeln (oder Nicht-Handeln) auf den Gang der Dinge Einfluss nehmen.

Wie aber sind eine Antwort in Form eines scheinbar zufälligen Orakelergebnisses und eine zuvor gestellte Frage miteinander verknüpft? Welcher – wenn nicht ein kausaler – Zusammenhang besteht zwischen diesen beiden Ereignissen?

C.G. Jung begann etwa um 1920 sich mit dem I Ging zu beschäftigen und notierte in diesem Zusammenhang:

Im Laufe der Zeit stellte es sich heraus, daß sozusagen regelmäßig gewisse Zusammenhänge zwischen der in Frage stehenden Situation und dem Inhalt der Hexagramme bestehen. […] Es scheint mir sogar, daß die Anzahl der deutlichen Treffer eine Prozentzahl erreicht, die weit über aller Wahrscheinlichkeit liegt. Ich glaube, daß es sich überhaupt nicht um Zufall, sondern um Regelmäßigkeit handelt.

Jung, 635 bzw. Clarke, 165-166.

Später prägt Jung für Phänomene dieser Art den Begriff Synchronizität, d.h. die physische Manifestation bzw. Spiegelung eines inneren Ereignisses, beispielsweise eines seelischen Zustandes, in einem oder mehreren äußeren, physischen Ereignissen. Die Verschränkung dieser beiden Ebenen – seelisch-innen und physisch-außen – erfolgt synchron, d.h. gleichzeitig, und ohne dass ein Zusammenhang im Sinne des Ursache-Wirkung-Modells feststellbar wäre. Was die beiden Ebenen jedoch tatsächlich miteinander verbindet ist ein psychischer Sinnzusammenhang.

Synchronizität als Erklärungsmodell

Mit seinem Begriff der Synchronizität lieferte Jung ein überzeugendes Erklärungsmodell für die Funktionsweise von Orakelsystemen: Frage und Antwort sind in Form eines psychischen Sinnzusammenhangs miteinander verbunden. Darüber hinaus bietet die Quantentheorie – das neue Paradigma der Physik jenseits des Ursache-Wirkung-Modells bei dem der (beobachtende) Geist darüber entscheidet, welche Möglichkeit sich jeweils als Wirklichkeit manifestiert – einen wissenschaftlichen Rahmen für diese Sichtweise.

Worin besteht der Sinn einer Orakelbefragung?

Wenn wir nun also festhalten, dass

  1. wir offenbar in einer nicht-deterministischen Welt leben und daher frei entscheiden und handeln können und
  2. Ereignisse (wie z. B. die Frage an und die Antwort durch das Orakle) auch auf nicht-kausale Weise miteinander verbunden sein können, nämlich synchron, d.h. aufgrund eines psychischen Sinnzusammenhanges

ergibt sich daraus, dass man die Ergebnisse einer Orakelbefragung vielleicht als eine Art Tiefenbohrung beschreiben könnte.

Orakelbefragung als Methode, um die Realität zu untersuchen

Vielleicht kann man eine Orakelbefragung so beschreiben: Es ist eine Art Tiefenbohrung in die persönliche Realität, die Einsichten liefert, die unserem menschlichen Tagesbewusstsein so nicht ohne weiteres zugänglich sind und uns die Hintergründe einer Situation offenbart, deren Kenntnis zur Entscheidungsfindung möglicherweise wichtig ist.

Denn die Zukunft ist offen (und nicht vorbestimmt / determiniert) und entwickelt sich prozesshaft aus den Strukturen der Gegenwart. Je besser wir daher unsere Gegenwart und ihre Verfasstheit kennen und verstehen, um so zielgerichteter, sinnvoller und erfolgreicher können wir in ihr handeln – oder nicht-handeln.

Noch einmal: Wer antwortet mir, wenn ich das I Ging befrage?

Weiter oben im Text haben wir den Ursprung der übermittelten Informationen neutral als „von einer höheren Instanz/Warte aus“, „aus dem Unbewussten/Vorbewussten aus“ beschrieben und angesichts der Qualität der Antworten ist es sicherlich akzeptabel, das anzunehmen.

Wenn wir diesen Ursprung personalisieren, könnten wir ihn vielleicht auch als unser „(höheres) Selbst“ beschreiben und erhalten dazu als Instanz, die die Frage stellt bzw. die Antwort erhält: „Bewusstsein“, „Tagesbewusstsein“ bzw. „Ich“.

In welchen Verhältnis stehen nun diese beiden Instanzen zueinander, unser „Tagesbewusstsein/Ich“ und die „höhere Warte/Unewusstes/Vorbewusstes/Selbst“?

Von Jung zu Neumann: Ich und Selbst

Grundsätzlich stammt das Modell, das Ich und Selbst miteinander ins Verhältnis setzt, von C.G. Jung. Das Ich repräsentiert hierbei mein Bewusstsein, mit dessen Hilfe ich meine Welt gestalte. Das Selbst hingegen repräsentiert mein gesamtes Sein inklusive aller unbewussten Anteile. Man könnte dieses Selbst als das große Grundmuster des eigenen Lebens bezeichnen, seinen Gesamtentwurf oder Lebensplan, der aber erst im Laufe des Lebens deutlich und sichtbar wird.

Praktisch betrachtet ist das Selbst also eine Ressource, die mir bei meiner Identitätssuche Orientierung geben kann, zugleich bleibt sie meinem direkten – bewussten! – Zugriff jedoch entzogen.

Erich Neumann, Jungs kongenialer Schüler, spricht in Bezug auf das Zusammenspiel von Ich und Selbst von der Ich-Selbst-Achse:

Die menschliche Ich-Selbst-Struktur ist ihrem Wesen nach paradox, weil in ihr der mit dem Ich verbundene Bewusstseinsaspekt sich als unlösbar mit dem verbunden erweist, was wir als „Unbewusstes“ bezeichnen. So wie das Ich und das Bewusstsein, wie wir sagen „aus“ dem Unbewussten entstehen, ist der Mensch als schöpferisches Ich fortlaufend auf seinen Zusammenhang mit diesem ihm Unbekannten angewiesen, dass er „selber“ ist, ohne dass er zu wissen imstande ist, was dieses „ich selber“ eigentlich sei.

Neumann 1959, 353.

Im nachfolgenden, etwas längeren Zitat, zeichnet er das Bild eines idealen Zusammenspiels von Ich und Selbst, bei dem das Ich das Selbst umkreist wie die Erde die Sonne. Hier das Zitat:

Wenn wir die Persönlichkeit ausschließlich vom Ich her erfassen, können wir sie als eine in einer äußeren Umwelt lebende biopsychische Individualität definieren. Sobald wir aber begriffen haben, dass dieses Ich niemals ohne das ihm zu Grunde liegende Selbst existieren und sich entwickeln kann, kommt es zu der entscheidenden kopernikanischen Wendung in der Tiefenpsychologie, von der aus die menschliche Persönlichkeit und das menschliche Leben nicht mehr vom Ich aus zu verstehen sind, sondern vom Selbst her, um das dieses Ich kreist wie die Erde um die Sonne. Dann aber erkennen wir die Persönlichkeit als eine Wirklichkeit, in welcher die Ich-Selbst-Achse das tragende Phänomen ist. Wir verstehen die Dynamik des menschlichen Lebens als eine Einheit, für die ebenso bewusste wie für das Bewusstsein unbekannte, unbewusste Prozesse und ebenso psychisch „innere“ wie welthaft „äußere“ Inhalte einen unauflösbaren Zusammenhang bilden.

Neumann 1963, § 575.

Wenn ich Neumanns Bilder auf mich wirken lasse, wenn ich mir dieses erdähnliche Ich vorstelle, das eine zentrale, lebensspendende Selbst-Sonne umkreist, dann sehe ich auf einmal Seefahrer vor mir: Seefahrer, die auf einem weiten Ozean unterwegs sind, auf eine Reise, bei der ihnen allein ferne Sternbilder Orientierung geben und ihnen Richtung zum Zielhafen weisen.

Unsere Selbst-Sonne teilt sich im I Ging mit

Ja, vielleicht kann man sie so verstehen, diese Antworten des I Ging: Als Mitteilungen unserer Selbst-Sonne, die gerne bereit ist, unser Ich bei seiner Weltgestaltung zu leiten (wir haben ja schließlich um Antwort gebeten) und die durch orientierungsstiftende Bilder zu uns spricht.

Quellenverzeichnis

— Clarke, J. J. 1997. C. G. Jung und der östliche Weg. Zürich: Walter.
— Neumann, Erich. 1963. Das Kind: Struktur und Dynamik der werdenden Persönlichkeit. Rhein-Verlag.
— Neumann, Erich. 1953. „Das Schöpferische als Zentralproblem der Psychotherapie.“ In Acta Psychotherapeutica et Psychosomatica.
— Jung, Carl Gustav. 1963. Bd. Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. Rascher.

Weiterlesen