Anforderungsprofil an einen alternativen Deutungstext
Ich möchte meine Erörterung der Hintergründe zum I Ging mit ein paar persönlichen Überlegungen zum Anforderungsprofil an einen alternativen Deutungstext abschließen. Genauer: Ich möchte darlegen, welche Aspekte meines eigenen kulturellen Hintergrundes – unsere freiheitliche, westlich geprägte Welt inklusive unseres Menschenbildes – mir am Herzen liegen. Denn mein eigener kultureller Hintergrund bildet schließlich den Urgrund, aus dem meine Texten zu Trigrammen und Hexagrammen entstanden sind.
Wir sind leib-seelische Wesen: Körper und Seele bilden eine Einheit
Diese Erkenntnis ist in unserer westlichen Welt – speziell in der Schulmedizin – nicht unbedingt ein Allgemeinplatz (wohl aber in den holistischen Systemen Asiens: TCM, Ayurveda etc.). Was hat diese Einsicht mit der Deutung des I Ging zu tun? Nun: Erkenntnis kann man intellektuell, über den Kopf, aber auch über den Körper gewinnen. Ich habe viele Dinge über das Leben begriffen, indem ich mich östlichen Disziplinen widmete: Indem ich beispielsweise Taiji-Unterricht nahm, mich in dieser Kunst übte und immer noch übe. Oder auch, indem ich Akupunktur erfuhr, als Patientin, beim Studium der Fachbücher und beim Erlernen von Grundlagen wie Pulsdiagnose und die klassischen Behandlungsmethoden.
Da es eine Verbindung zwischen den Trigrammen des I Ging und der Fünf-Elemente-Lehre gibt, konnte ich Fachliteratur zur Akupunktur nutzen, um die energetische Qualität der einzelnen Trigramme besser zu verstehen. Plötzlich waren sie nicht nur abstrakte Beschreibungen, sondern ich konnte sie in mir, in meinem Körper fühlen.
Wir sind Freiheitswesen und zugleich Bedürfniswesen
Diese Einsicht stammt aus der Philosophie, genauer: aus der philosophischen Anthropologie, die ich im Rahmen meines Philosophiestudiums kennen und ganz besonders schätzen gelernt habe. Ich habe begriffen, wie verletzlich wir Menschen sind: Wir kommen auf diese Welt und sind ohne die Fürsorge anderer Menschen nicht überlebensfähig. Erst im Lauf von vielen Jahren werden wir zu selbständigen und freien Wesen – und wechseln die Seiten: Vom nehmenden Wesen werden wir zum gebenden, geben anderen was wir selbst erhalten haben, nämlich Zuwendung und Unterstützung.
Wieso sind diese Einsichten für die Interpretation des I Ging wichtig? Weil das WIE unseres menschlichen Miteinanders immer eine treibende Kraft ist. Wo bin ich Freiheitswesen und ganz-bei-mir, wo bin ich Bedürfniswesen und auf andere Menschen verwiesen? Wir sind und bleiben Beziehungswesen und stecken damit immer wieder in Konflikten: Wo ist die Grenze, bis wohin geht das, was Ich bin, wo beginnt die Einflusssphäre des anderen, des Du? Auf diese Frage gibt es keine abschließende Antwort, sie lässt sich nicht ein für allemal beantworten. Wir sind vielmehr aufgefordert, die Grenze zwischen uns und den anderen immer wieder neu zu bestimmen, neu auszuhandeln.
Wir sind verletzliche Wesen – aber wir können auch wieder heilen
Als Bedürfniswesen sind wir Menschen aufeinander verwiesen: Wir brauchen einander. In diesem Aufeinander-Verwiesen-Sein kann viel Gutes geschehen – aber leider auch vieles schief gehen. Wir sind verletzlich, wir können andere verletzen. Manche Wunden heilen, manche sind so schlimm, dass sie uns ein Leben lang prägen werden.
Zugleich stellt diese Verletzlichkeit das Unterpfand unseres Potentials dar, denn sie gibt uns das, was den stärker instinktgebundenen Wesen vorenthalten bleibt: die Fähigkeit uns anzupassen und zu lernen. Denn gerade weil wir so verletzlich sind, haben wir die Fähigkeit zur Anpassung erworben, die dann vollendet ist, wenn wir als Individuum mit unseren Möglichkeiten im Einklang mit den Erfordernissen unserer Umwelt stehen.
Vielleicht, wenn man diesen Gedanken weiterführt, kann man in diesem Sinne auch Gesundheit und Krankheit sehr basal definieren: Als Einklang zwischen Individuum und Umwelt – oder als Dissonanz. Heilung bedeutet in diesem Sinne dann, dass wir wieder in Harmonie mit unserer Umwelt kommen – wobei sich die Sphäre unserer Einflussnahme auf uns selbst beschränkt: Wir können uns nur selbst verändern, aber so gut wie nie die uns umgebende Umwelt.
Woher diese Überlegungen stammen? Ohne an dieser Stelle in Details gehen zu wollen: aus den Arbeiten von C. Rogers, K. Goldstein, L.R. Grote, die allesamt zu medizinischen und psychologischen Themen geforscht haben. Und vom Leitmotiv der Adult Children, das folgendermaßen lautet: „God, grant me the serenity, to accept the people I cannot change, the courage to change the one I can and the wisdom to know that one is me.“
Fragen bringen mehr als Antworten
Ich habe ziemlich lange gebraucht, bis ich das begriffen habe: Fragen bringen mehr als Antworten. Anders ausgedrückt: Es geht nicht darum, jemandem die Welt zu erklären – sondern interessant ist, jemanden auf den Weg zu bringen, indem man die richtigen Fragen stellt. Damit diese andere Person ihre eigenen Antworten finden kann.
Genau das ist ja meine Kritik an den klassischen Deutungstexten des Textus receptus: Die Deutungstexte des Buchs der Wandlungen geben unverständliche Antworten anstatt mir kluge Fragen zu stellen, damit ich tiefer dringen kann, damit ich die Antworten, die mein Selbst an mein Ich sendet, wahrnehmen kann.
Auf den Hexagrammseiten haben ich deswegen im Abschnitt Dem Weg des Dao folgen viele Fragen formuliert (hier beispielsweise Hexagramm 17). Denn es gibt kein Buch, in dem meine eigene Antwort steht, niemand kann sie mir sagen – ich kann sie nur selbst finden, in mir. Und zwar jedes Mal neu, wenn ich das I Ging befrage und die Antwort auf die Fragen, die es mir stellt, in mir selbst finde.
Die Fragen, die ich auf den Einzelseiten zu den Hexagrammen stelle, sind nicht willkürlich, sie folgen tatsächlich einem Modell, das ich hier genauer darstelle: Dem Weg des Dao folgen. In dieses Modell sind Erkenntnisse aus Philosophie, Psychologie und Psychoanalyse eingeflossen und ich habe dieses Wissen mit dem, was ich selbst vom Leben erfahren durfte und begriffen habe, abgeglichen.
Die Zielsetzung des Weges ist klar: Ein glückliches Leben zu führen
„Glück ist das höchste Ziel des menschlichen Lebens“ schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik und begründet es auch: „Das Glück erwählen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals zu einem darüber hinausliegenden Zweck“.
Damit wären wir final in unserem eigenen kulturellen Kontext angelangt. In dem es um das Individuum geht, um sein Wohl, seine Eigenheit, seine Einzigartigkeit. Um seinen intrinsischen Wert als menschliches Wesen. Um die Reche, die ihm oder ihr (oder x und Co.) qua Menschsein zukommen.
Und um die Ergebnisoffenheit von Prozessen. Dass bei uns Denken erlaubt ist, das es erlaubt ist, Wissen weiterzuentwickeln, in der demutsvollen Einsicht, dass menschliches Wissen immer begrenzt ist und niemals final, letztgültig. Dass wir das, was wir wissen, auch verwerfen dürfen. Und wenn auch nicht verwerfen, dann doch zumindest: weiterdenken.
Dass Fragen besser ist als Antworten.
Vielleicht liegt hier der Hauptunterschied zwischen den Deutungstexten in no2DO und denen des Textus receptus: Dass das Ziel nicht ist, aus einem Vielvölkerstaat ein Einheitsreich zu schaffen, dessen Wohl über dem Wohl des Einzelnen steht und in dem individuelle Eigenart und individuelles Denken Quellen der Gefahr sind.
Sondern, dass das Individuum zählt. Und Glück das höchste Ziel allen menschlichen Lebens ist.