Wir haben weiter oben gesehen, dass die Hexagramme mit denen uns das I Ging antwortet, Mitteilungen unseres Unbewussten an unser Tagesbewusstsein sind. Das klingt erst einmal schön. In der Praxis zeigt sich dann aber schnell, wie schwierig das ist: Wie ist der Sinn dieser Antwort des I Ging auf die eigene, bei der Befragung formulierte Frage zu verstehen? Und wie kann man mit diesen Antworten arbeiten bzw. sie konkret umsetzen?
Der Fragende kennt die Antwort bereits
Es gibt eine alte Weisheit und die besagt: Der Fragende kennt die Antwort bereits. Überlegen Sie selbst, oft ist das wohl auch in Ihrem Leben schon wahr gewesen. Der erste, wichtige Punkt bei der Befragung des I Ging ist also gar nicht die Antwort, die das I Ging gibt, sondern die kluge Frage, die man dem I Ging gestellt hat. Und die Frage ist klug, weil sie den Kern der Dinge (aka: den Kern des Problems) sehr genau umreißt. Denn wir haben ja schon die ganze Zeit gespürt, wo uns der Schuh drückt, wo etwas nicht ganz rund läuft. Und dieses Wissen haben wir in eine kluge Frage gegossen und sie dem I Ging gestellt.
Und vielleicht (aber nur vielleicht) ahnen wir auch bereits – und zwar im Moment, als wir unsere kluge Frage formuliert haben –, in welcher Richtung wir uns bewegen müssten, um die Situation zu (er-)lösen. In diesem Sinne will die konkrete Antwort des Hexagramms nichts weiter als… uns ein wenig auf die Sprünge helfen.
Den Sinn des Hexagramms erfassen
Schritt 1: Formale Betrachtung im Abschnitt Dynamik des Hexagramms
Damit gelangen wir zum Interpretationsmodell. Auf der Hexagramm-Einzelseite wird im Abschnitt Das Das Hexagramm: Die inneren Trigramme unser Antwort-Hexagramm zunächst formal gegliedert und in eine Abfolge von vier Trigrammen zerlegt (Unteres Trigramm → Erstes Kernzeichen → Zweites Kernzeichen → Oberes Trigramm). Im Abschnitt Die inneren Trigramme des Hexagramms im Wechselspiel von Yin und Yang zeigt noch einmal grafisch, wie die Trigramme aufeinander folgen.
Schritt 2: Konkrete Anregungen im Abschnitt Wandlungen und Impulse
Im Abschnitt Wandlungen und Impulse geht es darum, den Sinn des Hexagramms zu erfassen. Was bedeutet das Hexagramm konkret für mich, für mein Leben, für die Situation, in der ich mich befinden? Was will mir das Hexagramm sagen, welche Antwort hat es für mich, welchen Weg will es mir weisen?
Den Schlüssel zum Verständnis bilden hier die Wandlungen bzw. anders gesagt: die Übergänge von einem Trigramm zum nächsten. Im Abschnitt Wandlungen und Impulse sind dazu ganz konkrete Einzelschritte formuliert, inklusive Anregungen oder auch Fragen. Wir werden eingeladen, bestimmte Bereiche unseres persönlichen Lebens genauer zu betrachten.
Hintergrund dieser Herangehensweise ist eine Bedeutungstheorie, die im Artikel Annäherung aus Westen genauer dargelegt ist. Knapp zusammengefasst kann man sagen, dass wir als Menschen eingeladen sind, zwei Kernbereiche unserer Existenz sowohl jeweils zu entwickeln wie auch harmonisch miteinander in Einklang zu bringen:
- Unser Selbstverhältnis. Damit ist gemeint, wie wir mit uns selbst umgehen bzw. wie wir zu uns zu uns selbst verhalten.
Konkrete Fragen wären beispielsweise: Kenne ich meine Bedürfnisse? Erfülle ich sie auch? Vertraue ich mir selbst? Schleppe ich Altlasten mit mir herum? - Unser Weltverhältnis. Damit ist gemeint, wie wir mit anderen Menschen umgehen.
Konkrete Fragen wären beispielsweise: Kann ich mich abgrenzen? Lasse ich mich ständig von anderen unterbuttern? Kann ich meine Bedürfnisse anderen gegenüber klar formulieren? Bestimmen ausschließlich die Bedürfnisse anderer Menschen mein Verhalten?
Die Texte im Abschnitt Wandlungen und Impulse zielen in diesem Sinne auf jeweils eigene Funktionsbereiche unseres Lebens, sie sind aber dennoch eher allgemein formuliert. Konkret werden sie, wenn wir zulassen, dass sie für uns einen Raum eröffnen, einen Raum, in dem wir still werden und anfangen, in uns selbst hineinzuspüren, hineinzulauschen. Denn in unserem eigenen Inneren liegt die Antwort auf unsere Frage – die kluge Frage, die wir aus unserem Wissen um die konkrete Situation heraus ganz am Anfang formuliert haben.
Eine weitere Hintergrundüberlegung
Einer der Leitgedanken bei den Texten im Abschnitt Wandlungen und Impulse ist folgende Überlegung: Was können wir wirklich verändern? Zur Auswahl stehen: Dinge, Orte, Menschen.
Die Erfahrung – Ihre, meine, die Erfahrung vieler Menschen – hat gezeigt, dass wir Dinge, Orte, Situationen, andere Menschen nur sehr bedingt bzw. kaum bis gar nicht verändern können. Und zwar egal, wie sehr wir uns auch anstrengen, es bleibt es ein ergebnisloses und frustrierendes Unterfangen. Aber es gibt eine Sache, die können wir definitiv verändern, einfach deswegen, weil wir vollen Zugriff darauf haben: Uns selbst. Und selbst, unsere Haltung zur Welt, unsere Reaktionen auf Dinge, Orte, Situationen, andere Menschen – kurz: unsere Umwelt.
Und genau darauf zielen die Texte auf den Hexagrammseiten im Abschnitt Wandlungen und Impulse: Anregung zu geben, wo wir an unserer Haltung arbeiten können.
Schritt 3: Hineinspüren und Lauschen (Kurzanleitung)
Wie bereits erwähnt, sind die Texte im Abschnitt Wandlungen und Impulse eher allgemein formuliert. Erlauben Sie deswegen, dass diese Texte einen Raum für Sie eröffnen, einen Raum, aus dem die individuelle Antwort auf Ihre sehr konkrete Fragestellung aus Ihrem eigenen Inneren zu Ihnen dringen kann.
Folgende Vorgehensweise hat sich inzwischen für mich als sehr hilfreich erwiesen:
- Ich gehe auf der Interpretationsseite des jeweiligen Antwort-Hexagramms zum Abschnitt Wandlungen und Impulse. Dort lese ich mir den Text im ersten Kästchen („Unteres Trigramm…“) einschließlich der gelb markierten Frage halblaut vor.
- Dann schließe ich die Augen, gebe mir 40 Sekunden Zeit. Ich lasse Worte und v. a. die Frage(n) auf mich wirken. Mir persönlich gehen dann meist Bilder durch den Kopf, ich bin ein visueller Mensch, vielleicht sind es bei Ihnen Worte, Töne, Gerüche. Diese Bilder (oder Worte, Töne, Gerüche) zeichne bzw. notiere ich mir kurz.
- Dann gehe ich zum nächsten Kästchen und wiederhole den Vorgang. Ich lese Text und Fragen, schließe die Augen, warte, bis etwas vor meinem inneren Auge etwas erscheint, mache Notizen. Und wiederhole das Prozedere so lange, bis ich schließlich zum letzten Kästchen komme („Oberes Trigramm…“).
- Am Ende lese ich mir meine gesamten Notizen noch einmal durch. Manchmal entsteht bei mir daraus eine Collage, wie z. B. bei Hexagramm 57.
Mit dieser Antwort – z. B. mit meiner Collage vom Hexagramm 57 – lebe ich dann ein bisschen. Ich bewahre mein Bild an einer Stelle auf, an der ich es mehrmals am Tag sehen kann. Ich lebe meine Tage und denke über die Antwort nach, wende sie an, beobachte, was ihre Umsetzung bewirkt.
Ein paar Worte zu Schluss
Man kann viel gute Veränderung alleine bewirken. Aber wir sind auch soziale Wesen und entwickeln uns ganz besonders positiv in der vertrauensvollen Interaktion mit anderen Menschen. Das kann mit einem Freund oder einer Freundin sein, mit einer Gruppe Gleichgesinnter, im Rahmen einer Selbsthilfegruppe, manchmal aber auch mit einem professionell ausgebildeten Coach oder Therapeuten. Scheuen Sie sich nicht, Kontakte zu knüpfen. Wir alle tragen die Altlasten unserer Vorfahren in uns, Krieg und Trauma, und es ist nur richtig, wenn wir uns auf unserem Weg Unterstützung holen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute!
Karin Soika