Meistens wenn wir Änderung wünschen, wenn wir eine Entscheidung treffen, denken wir, wir müssten jetzt etwas Neues tun, dem bereits Bestehenden etwas nie Dagewesenes hinzufügen.
Manchmal ist gerade das Gegenteil zielführend: nichts tun – und etwas loslassen. Vielleicht ein Selbstbild, eine Gewohnheit, den gewohnten Blick auf etwas, ein „schon immer“. Vielleicht auch unseren Impuls, jetzt mit der Faust auf den Tisch zu hauen und unseren Willen durchzuboxen.
Wenn wir dieses etwas, dass wir loslassen sollten, gefunden und tatsächlich losgelassen haben, dann öffnet sich unser Blick. Und erst spüren wir und dann sehen wir: NEU.
Einige Überlegungen
Veränderungen. Geht es darum, im Hexagramm 21 – das Durchbeißen? Wie man Dinge, Verhältnisse im eigenen Leben, Verhaltensmodi, grundsätzlich verändert? Fast scheint es mir so.
Ich habe am Wochenende einem Freund geschrieben, der in so einem Veränderungsprozess steckt. Und die erstaunliche Einsicht war: Wenn man den Schalter gefunden hat, den es Umzulegen gilt, dann geht der Rest quasi von alleine. Es dauert dann zwar noch, man braucht Geduld, aber man muss dann nicht mehr viel „tun“.
Aber wo ist nur dieser Schalter? Bei dem Freund hatte es mit (Kindheits-)Schmerz zu tun, den er lange weggedrückt hatte. Irgendwann fand er den Mut und die Gelegenheit, sich das alles anzusehen. Sich zu stellen. Und seit er das getan hatte… wandelt sich alles. Weil plötzlich diese ganzen schrägen Verhaltensmuster offensichtlich (und überflüssig) wurden, die nur dazu gedient hatten, dass er sich dem Schmerz nicht stellen muss. Jetzt kann er diese Muster loslassen. Und ein ganz anderes, neues Leben beginnen. (Ja, aber wie findet man den Schalter? Leute, sucht euch Unterstützung, sag ich da. Man muss ja nicht immer alles alleine machen. Oder vielleicht kann man so sagen: Wenn man beschlossen hat, ernsthaft nach dem „Schalter“ zu suchen (der Entschluss ist schon mal sehr wichtig!), dann muss man eigentlich nur ein bisschen aufmerksam sein, die Augen offenhalten, weil einem „Unterstützung“ dann ziemlich sicher über den Weg laufen wird. Ganz sicher :) )
Fragestellungen
Kürzlich erreichte mich eine weitere Fragestellung zum Hexagramm 21 – das Durchbeißen:
- Die Frage des Nutzers an das I Ging lautet: „Wie kann den Teufelskreis durchbrechen, sodass meine persönlichen Beziehungen nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt sind?“
Den „Teufelskreis“ erläutert der Nutzer folgendermaßen: „Ich sabotiert meine persönlichen Beziehungen indem ich meist sehr viel schneller eine Bindung aufbaue, als meine Mitmenschen das tun. Ich sehe mein Gegenüber bereits als allerbesten Freund oder verliebe mich Hals über Kopf während der andere mich gerade erst kennenlernt. Damit setze ich die anderen unter Druck und sie distanzieren sich, was wiederum mich sehr verletzt. Was kann ich tun? Ich kann doch meine Gefühle nicht willentlich ein- und ausschalten kann? Und wenn ich meine Gefühle absichtlich kontrolliere, frisst mich das innerlich auf.“
Interessanterweise hat mein Anliegen eine gewisse Ähnlichkeit mit der u. g. Fallstudie (Vaterkonflikt). Denn auch bei mir läuft es immer auf das ungute Gefühl hinaus, nie gut genug für andere Menschen zu sein.“ - Die Frage einer Nutzerin lautete: „Was sollte ich tun, um mit all meinen aktuellen Problemen (Rechtsstreit; Stagnation in kreativen Projekten; keine klare berufliche Perspektive; Druck von Behörden) fertig zu werden?“ Die Antwort des I Ging – Hexagramm 21 – das Durchbeißen – scheint ihr jedoch mehr zu sein, als eine reine Durchhalteparole. Offenbar geht es gerade nicht darum, einfach nur die Zähne zusammenzubeißen und durchzuhalten…
Und so ergibt sich für sie eine Folgefrage: „Was muss ich loslassen?“, die das I Ging schließlich mit Hexagramm 28 – des Großen Übergewicht beantwortet. - Ein Nutzer fragt zum Thema eines neuen Jobs inklusive Umzug.
- Eine Nutzerin fragt zur Zeitqualität von Vollmond zu Neumond.
Fallstudie
Ein Nutzer mit ewig schwelendem Vaterkonflikt erhält das Hexagramm 21 – das Durchbeißen.
Entschlossenheit (Zhen, der Donner; unteres Trigramm) und Loslassen (Gen, der Berg; erstes Kernzeichen), bilden Anfang und Ende des Hexagramms 21 – das Durchbeißen. Doch was soll der Nutzer loslassen? Wir denken gemeinsam nach. Und haben schließlich eine Idee: vielleicht ist es sein Selbstbild als Kind, das dem Vater gegenübertritt. Das Kind, das er so lange war, das er vielleicht immer noch ist, und das den Ansprüchen des Vaters nie genügte.
Wie verändert sich das Selbstbild, wenn man sich selbst plötzlich nicht mehr als Kind, sondern als erwachsenen Mann sieht? Statt Schwäche und Unerfahrenheit: Stärke und die eigene Lebensklugheit, die man auf dem Weg bis zum hier und heute gesammelt hat.
Diese kleine Veränderung des Fokus hat große Wirkung: aus Gen, dem Berg, entsteht Kan, das Wasser (zweites Kernzeichen). Alles was wir je erlebt haben, alle Situationen, in denen wir uns bewährt haben, bilden unseren eigenen Urgrund (Kan, das Wasser), aus dem wir heute schöpfen. (Bloß gegenüber dem Vater, als ewiger Sohn, vergisst man das manchmal…)
Überraschend klare Einsicht (Li, das Feuer; oberes Trigramm)!
Noch ein paar Überlegungen
Assoziiert man das Hexagramm mit einem Akupunkturpunkt – das nun folgende ist sehr experimenteller Natur – ergibt sich GB38. Das ist ein allgemein sehr häufig eingesetzter Punkt, vielleicht weil es unserem Kulturkreis entspricht, dass man mit eigenen Entscheidungen sehr schnell an Mauern der Konvention zerschellt (was wiederum Wut erzeugt, das klassische Gefühl bei gestörter GB). Auch die Befragungszeit, März, warmes, frühlingshaftes Wetter, entspricht dem aufbrechenden Holz, very Zhen, not yet Sun.
Debra Kaatz schreibt zu GB38 Yang Fu:
Yang is the active side of Life… Fu is drawn as a carriage and the ability to grow into manhood and estabilsh a family… Yang Fu means to be supported in the rich energy of yang. Here the warmth and sunshine full of yang energy helps us mature and grow into „manhood“… At this point we are filled with warmth and love to feel secure and confident for opening outward… Kaatz 2005
Georg Zimmermann kommentiert in seiner Übersetzung des I Ging: die beiden Schriftzeichen bedeuten beißen, zusammenbeißen; die Herausforderung besteht darin, nicht so stark zuzubeißen, dass man sich die Zähne ausbeißt – und doch stark genug, um das Abgebissene verdauen zu können. Donner und Blitz, Bild der Spannungsentladung in der Natur, deuten Spannungszustände an; „Klare Strafen“, „Gesetze“ und „Gerichte“ (in den Bildworten, im Urteil) raten zu eindeutiger Klarstellung; rohe Gewalt allein würde hier nicht weiterhelfen, man beißt sich damit nur die Zähne aus.
Ich glaube, das umschreibt sehr gut die Haltung, die hier gefordert ist: ja, man soll eine klare Stellung beziehen – aber dies bedeutet für einen selbst, dass man in der Konsequenz etwas loslassen muss (und eben nicht, dass man jetzt mit der Faust auf den Tisch haut, um etwas durchzusetzen).
Erstaunlicherweise münden im I Ging Entscheidungen entweder in einen nachfolgenden Wachstumsprozess – oder in ein Loslassen (wie das Loslassen einer alte, zu eng gewordenen Schlangenhaut). Im Zeichen 21 – das Durchbeißen lautet die Konsequenz Loslassen und Rückbesinnung auf den eigenen Urgrund – um die Situation so zu entladen und zu klären.
Fundstück
Ein Fundstück auf meinem Spaziergang hat mir heute den Zusammenhang zwischen Entschlossenheit und Loslassen klargemacht: manchmal ist das Alte, Verwelkte noch da, während das Neue bereits beginnt. Und während das Neue bereits voll Entschlossenheit wächst, vergeht das Alte ganz von alleine, ganz sanft.
Man muss eigentlich gar nichts tun, man muss nur bereit sein, es loszulassen (und auf keinen Fall den Fehler begehen, es explizit festzuhalten zu wollen).
Was ich nämlich heute fand, war folgendes:
Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/788787.htm
Quellenverzeichnis
— Kaatz, Debra. 2005. Characters of Wisdom: Taoist Tales of the Acupuncture Points. The Petite Bergerie Press.