25 – die unschuld

無妄 wú wàng – ein japanischer Freund sagte mir kürzlich, dass das erste der beiden Schriftzeichen des chinesischen Namens von Hexagramm 25 – die Unschuld so viel wie „Reißzahn eines Tigers“ bedeutete und das zweite Zeichen „loslassen“. Ein chinesischer Freund meinte, das seien beides klassische Schriftzeichen, und daher auch für ihn nicht eindeutig lesbar. Kein Wunder, die Japaner haben die Schriftzeichen des klassischen Chinesisch übernommen und verwenden sie bis heute, während die Chinesen zur modernen chinesischen Schrift übergegangen sind und daher die alten Schriftzeichen meist nicht mehr lesen können.

Wird man also unschuldig, wenn man seine Tigerzähne loslässt? Später erfahre ich aus einer anderen Quelle, dass 無妄 wú wàng häufig mit „Unschuld“ oder das Ungeplante übersetzt wird, und zwar im Sinne von „nicht fehlgeleitet“, „nicht wahnhaft“, „nicht willentlich konstruiert“. Verbindet man diese Übersetzung mit der Vorstellung, dass man unschuldig wird, indem man seine Tigerzähne loslässt, so ergibt sich daraus eine eigentümliche, fast paradoxe Form von Reinheit. Eine Reinheit, die kein Urzustand kindlicher Naivität ist, sondern das Ergebnis einer bewussten, ethischen Entscheidung: der Entscheidung, die eigenen aggressiven, narzisstischen, egozentrischen Impulse loszulassen, die das soziale Miteinander bedrohen.

Was aber ist nun mit den Tigerzähnen gemeint? Sie sind jedenfalls kein Zeichen einer wie auch immer gearteten individuellen Schuld im moralischen Sinne – denn diese setzt einen freien Willen voraus. Tigerzähne aber sind nicht das Ergebnis einer Entscheidung, sondern sie sind eine Gegebenheit – eine conditio humana. Sie gehören zu unserer menschlichen Natur, wir kommen mit ihnen auf die Welt wie mit unserer Triebstruktur, unserem Narzissmus etc. Insofern ist der Begriff Unschuld als Übersetzung Übersetzung für das was mit 無妄 wú wàng gemeint ist vielleicht irreführend, denn Unschuld setzt Schuld voraus. Aber die Tigerzähne sind nichts, was wir frei gewählt haben, sie sind Teil unseres Menschseins.

Und wenn wir nun unsere Tigerzähne loslassen, befreien wir uns auch nicht von irgendeiner Schuld. Vielmehr lassen wir etwas Rohes, Ungezähmtes zurück. Verfeinerung oder Sublimierung wären vielleicht passendere Begriffe um das zu beschreiben, was mit 無妄 wú wàng gemeint ist. Denn es geht um einen Wandlungsprozess, in dem das Natürliche nicht verleugnet, sondern überformt wird – nicht unbedingt in etwas Sanftes, aber sicherlich in etwas Durchlässigeres, Ethischeres, dem menschlichen Zusammenleben Angemesseneres.

Fragestellungen zu Hexagramm 25

  • Ein Nutzer schreibt: „Nach einem unangenehmen Ereignis vor einigen Monaten befinde ich mich mehr oder weniger in einer Art Krise. Ich habe mein Leben im Griff und komme einigermaßen klar, aber emotional bin ich immer noch sehr aufgewühlt. So gut es geht versuche ich seither zu verstehen, was da eigentlich passiert ist – auch mit Hilfe des I Ging.“
  • Ein Nutzer fragt: „Bitte, sag mir, wie es mit X. und mir im neuen Jahr weitergeht!“
  • Eine Nutzerin hat eine für sie sehr wichtige Person auf skurrile Weise kennengelernt. Ihre Frage: „Wird es ein Wiedersehen geben? Oder: Was ist der Sinn?“
  • Ein Nutzer fragt: „Wie geht es jetzt weiter?“

Exkurs: I Ging und Psychoanalyse

Hexagramm 25 – die Unschuld

Schlagworte: Sozialisation und Schuldgefühle | Der Andere als Strukturgeber des Subjekts

Wie wird ein biologisches Wesen zum soziales Subjekt? Nach Jacques Lacan ist es der Andere – das Du, unser Gegenüber -, das uns zum Subjekt macht. Die Sprache, als Ordnung des Symbolischen, ist dabei nicht einfach nur ein Mittel der Kommunikation, sondern jene Struktur, die das Begehren formt, reguliert und überhaupt erst hervorbringt. Mit dem Eintritt in die symbolische Ordnung – also in Sprache, Gesetz und soziale Normen – tritt zugleich die Schuld auf den Plan: genauer gesagt, die Struktur der Schuld.

Denn das Subjekt kann sein Begehren nie ganz ausleben – es muss Teile seiner Impulse verdrängen, opfern, sublimieren, um in der Ordnung des Anderen bestehen zu können. Ein Prozess, der schmerzhaft und konfliktreich ist – aber auch schöpferisch. Denn das Subjekt gewinnt dadurch Zugang zu Verantwortung, Beziehung und Ethik.

In diesem Sinne verweist Hexagramm 25 – die Unschuld auf die Möglichkeit einer Unschuld nach der Schuld: nicht als Urzustand vor der Sozialisation, sondern als eine Haltung im Einklang mit dem Symbolischen. Es geht um eine Form der Reinheit, die sich nicht mehr von narzisstischem Begehren oder imaginären Selbstbildern irritieren lässt. Man hat die „Tigerzähne“- also die eigene rohe Vitalität des Triebhaften – losgelassen bzw.im Prozess der Sozialisation gezähmt. Das Resultat ist eine Reinheit im eigenen Verhältnis zum Anderen – nicht aber eine leere, durch äußeren Druck erzwungene Anpassung, die lediglich dem Ansprüchen des Anderen zu genügen versucht.

So verstanden ist „Unschuld“ kein Urzustand kindlicher Naivität, kein Zustand der Unberührtheit, sondern das Resultat eines bewussten ethischen Aktes, in dem destruktive Impulse losgelassen werden und das Individuum sich in die Ordnung des Gemeinsamen einfügt, ohne jedoch das eigene Begehren völlig zu verleugnen. Eine Unschuld, die sich im prekären Gleichgewicht zwischen Autonomie und Anerkennung, zwischen Trieb und Sprache, zwischen dem Eigenen und dem Anderen immer wieder aufs Neue vollzieht.

Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/788777.htm