„Ich, ich, ganz ich!“ – Ich stehe auf dem Gipfel, ich habe etwas erreicht. Und jetzt? Einen Moment lang ruhe ich mich noch aus, genieße die spektakuläre Aussicht. Aber dann?
Ich stehe auf dem Gipfel, ich habe etwas erreicht, ich genieße die Aussicht… Was sehe ich? Andere Gipfel, zu denen ich aufbrechen könnte. Um den Kreislauf der Welt von neuem beginnen zu lassen.
Erreichte Ziele sind immer nur Etappenziele. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dahinter liegen weitere Ziele, die wir aber nur von den erreichten Etappenziele aus erkennen können.
Wo also liegt mein nächster Gipfel? Ich kann ihn schon erahnen… Und dann, wenn ich bereit bin, treffe ich meine Entscheidung: das Erreichte loszulassen. Und mich wie ein Anfänger wieder auf den Weg machen.
Fallstudie
Hexagramm 26 – des Großen Zähmungskraft beginnt mit Qian, der Himmel als unterem Trigramm. Qian verweist auf unseren eigenen Geist, der idealerweise ein hohes Maß an Klarheit und Kohärenz aufweist, ungestört von Sorgen, Begierden und Gedankenschleifen. Qian beschreibt einen Menschen, der ganz und gut bei sich selbst ist: jemand, der weiß wer er ist, was er braucht, was er kann.
So wie die beiden Fragenden, die beide viel erreicht haben:
- Ein freiberuflicher Softwareentwickler fragt, was er in Zukunft machen soll. Seine jetzige Tätigkeit macht ihm keine Freude mehr, aber leider findet er aber auch keine andere Berufung.
- Eine Nutzerin, die vor wenigen Tagen 65 geworden ist, fühlt sich in ihrer Umgebung einsam, es fehlt ihr an Freude und Lebenslust. Sie wünscht sich einen Neuanfang, eine neue Wohnung, ein neues Umfeld.
Beide stehen in ihren jeweiligen Leben an Positionen, für die sie vielleicht lange und hart gearbeitet haben. Endlich haben sie ihre Ziele erreicht – einen gut bezahlten Job, den wohlverdienten Ruhestand. Und nun?
Sie stehen auf dem Gipfel wie ein Wanderer, der es endlich geschafft hat. Für einen Moment noch die schöne Aussicht genießen, aber dann…? Es ist schön, Qian erlebt zu haben. Aber auch Qian ist nur eine Durchgangsstation im Kreislauf des Lebens, das nie stehen bleibt und sich ständig weiterentwickelt. In Hexagramm 26 – des Großen Zähmungskraft wird aus Qian, der Himmel (unteres Trigramm) Dui, der See (erstes Kernzeichen).
Dui steht für Öffnung, für das Wechselspiel von Aufnehmen (das Außen/die Umwelt dringt in unser Inneres) und Abgeben (wir drücken unser Inneres nach außen hin aus). Dui lädt dazu ein, die Grenzen des Selbst zu öffnen, die Umwelt, das Du hereinzulassen. Es geht darum, in einen lebendigen Austausch mit der uns umgebenden Welt zu treten, sich mit dem, was uns begegnet, auseinanderzusetzen. Wenn Qian der vollkommene, voll entwickelte Schmetterling ist, der gerade seine Puppe verlassen hat, so ist Dui seine wahre Geburt in die Welt hinein: der erste Flügelschlag, die leichte Brise, das wärmende Sonnenlicht, der Duft des Nektars.
Die ideale Haltung für Dui ist, mit leeren Händen bereit zu sein, das zu empfangen, was da auf uns zukommt. Offenheit ist gefragt, Neugierde, die Bereitschaft, sich ohne jedes Vorwissen und Vorurteil vollkommen auf das Unbekannte einzulassen.
Im weiteren Verlauf des Hexagramms 26 – des Großen Zähmungskraft entsteht aus Dui, der See (erstes Kernzeichen) Zhen, der Donner (zweites Kernzeichen): Entscheidung, Impuls, Bewegung. Was uns begegnet ist, löst eine Veränderung in uns aus, etwas keimt in uns, beginnt zu wachsen und wir machen uns wieder auf den Weg.
Hexagramm 26 – des Großen Zähmungskraft endet in Gen, der Berg (oberes Trigramm). Wenn man sich entscheidet, wenn man sich in Bewegung setzt (Zhen), dann trennt man die Dinge: in das, was ist und was man behält und in das, was man loslässt (Gen, der Berg, zweites Kernzeichen). Der alte Gipfel liegt hinter uns. Und vor uns ein neues Ziel.
Ich gebe zu, dass diese Interpretation entfernt sich ziemlich weit von der traditionellen Auslegung, den Bildworten und dem Urteil.abweicht. Aber zur Entstehungszeit der Originaltexte gab es andere Werte, andere Ideale, nach denen die Menschen lebten. Damals waren die Menschen davon überzeugt, dass es für jeden Menschen einen festen Platz in der Gemeinschaft gab und Lebensbrüche wurden nicht akzeptierte. Das einmal Erreichte zähmte damals, während es uns heute Mut macht und zum Aufbruch einlädt.
Weitere Fragestellungen zu Hexagramm 26
- „Wie soll ich in Zukunft mit meiner Mutter umgehen?“ war die Frage eines Nutzers. Die Mutter ist ein schwieriger Mensch, befindet sich in einem bedauerlichen Zustand, sie braucht Hilfe, will sie aber nicht. Nach einer Episode massiven (eigenen) Herzproblemen hat der Nutzer beschlossen, den Kontakt zu seiner Mutter abzubrechen, zweifelte aber leise, ob dies er richtige Schritt sei. Durch Hexagramm 26 – des Großen Zähmungskraft fühlt er sich in seiner Entscheidung bestätigt. Das „Durchqueren des großen Wassers“ ist für ihn wie durch das „Tal der Tränen“ gehen: Das Alte abschließen, Abschied nehmen, um frei zu sein für das Neue.
- Eine Nutzerin schreibt: „Ich bin meinem inneren Ruf gefolgt, Menschen zu begleiten. Jetzt weiß ich nicht, wie diese Menschen zu mir finden können. Ich möchte mich nicht aufdrängen… Wie kann das alles funktionieren?“
- Eine Nutzerin erhält Hexagramm 26 – des Großen Zähmungskraft in folgender Situation als Antwort: „Ich überlege, zu einem Mann zu ziehen, in ein anderes Bundesland und sechs Stunden von zu Hause entfernt Wie wird unsere Beziehung sein?“
- Eine Nutzerin fragt: „Wie und wann wird mein Leben endlich leichter und erfüllter? Mit Partner und Familie, mit Freunden und an einem guten und gesegneten Ort?“
- Eine Nutzerin steht kurz vor einem wichtigen Schritt in ihrem Leben: Sie will gemeinsam mit ihrem Partner ein Unternehmen gründen. Es ist ein großer Schritt, der ihr viel abverlangt, auch wenn sie gut vorbereitet ist und das Vorhaben über viele Jahre geplant hat. Ihre Frage an das I Ging lautete: „Muss ich Angst haben vor all dem, was kommt?“ Die Antwort des I Ging, Hexagramm 26 – des Großen Zähmungskraft, erscheint ihr sehr klar, eben, dass sie auf ihre innere Stimme und ihre Intuition hören und vieles loslassen soll, um sich dem Leben und allem, was kommt, hingeben zu können. In der Vergangenheit hat sie bereits die Erfahrung gemacht, dass sie mit jedem Loslassen ein Stück zufriedener und glücklicher geworden ist. Die Antwort des I Ging stimmt sie daher zuversichtlich und sie kann sich sogar ein wenig auf das Kommende freuen.
Exkurs: I Ging und Psychoanalyse
Hexagramm 26 – des großen Zähmungskraft
Schlagworte: Das Begehren als treibende Kraft der Psyche, der Mangel als Ursprung des Subjekts | Das Begehren, der Mangel und das Objekt klein a
Was treibt das Subjekt an? Nach Jacques Lacan ist es nicht ein Bedürfnis oder ein konkretes Ziel, sondern der Mangel selbst – eine konstituive Leerstelle im Symbolischen. Dieser Mangel entspringt nicht einem Verlust, sondern ist die Bedingung der Möglichkeit des Begehrens. Das Objekt, das diesen Mangel strukturiert, nennt Lacan objet petit a: jenes Unfassbare, das dem Begehren seine Form gibt, ohne es je erfüllen zu können.
In diesem Sinne kann die Struktur von Hexagramm 27 als eine Bewegung des Subjekts innerhalb der Logik des Begehrens gelesen werden: Der Mensch erkennt, dass das Erreichte ihn nicht erfüllt, dass es ein „Mehr“ gibt, das ihm fehlt – und dass dieses Mehr nie benannt werden kann. Und so macht er sich erneut auf den Weg.
Denn das Subjekt ist im Begehren gefangen und die Bewegung geht nicht zurück zu einem verlorenen Objekt, sondern nach vorne, zu einer immer wieder neu imaginierten Erfüllung. Jeder erklommene Gipfel öffnet den Blick auf den nächsten – eine Bewegung, die energetisch, impulsiv, manchmal zerstörerisch, aber immer notwendig ist. Denn nur so bleibt das psychische Leben in Bewegung.
Das Begehren hat auch eine ethische Dimension. Es darf weder verleugnet noch erfüllt werden – es muss strukturiert werden. Das heißt: Das Subjekt muss Verantwortung für sein Begehren übernehmen. Es muss seine Position innerhalb der Struktur des Begehrens anerkennen – auch wenn diese widersprüchlich, unbewusst oder gesellschaftlich unerwünscht ist. Konkret bedeutet dies, sich der Tatsache zu stellen, dass es ein Begehren in mir gibt – und sich zu fragen: Was ist mein Begehren? Und weiter: Wie will ich mich dazu verhalten?
Die Reifung des Subjekts vollzieht sich nicht in der Befriedigung, sondern im Durcharbeiten des Mangels. Das reife Subjekt ist bereit, sich immer wieder neu in Beziehung zu setzen – zu sich selbst, zum Anderen, zur Welt. Seine ethische Haltung zeigt sich im (Er-)Tragen seines Begehrens.
Die Übersichtsseite zu diesem Hexagramm finden Sie hier:
https://www.no2do.com/hexagramme/777887.htm