Manchmal ist unser kühler Kopf die Rettung: wenn es drunter und drüber geht, wenn die Bauchgefühle verrückt spielen. Aber vielleicht spielen sie gar nicht verrückt, wir verstehen nur einfach nicht, was sie uns sagen wollen. Dann hilft der kühle Kopf – und weist dem Bauch den Weg. Lichtet das Dunkel. Beruhigt den Aufruhr.
Bis der Bauch wieder mitspielt, Kopf und Bauch zueinander finden, sie gemeinsam einen Entschluss fassen. Und Abschied nehmen: von der Verwirrung.
Fallstudie
Einer Nutzerin beklagt ihre berufliche Situation. Sie hatte kürzlich mit einem Kollegen ein gemeinsames Projekt gestartet und sich in dessen Verlauf immer mehr eingebracht. Leider wurde die Arbeit, die für das Projekts zu tun war, im Lauf der Zeit immer mehr – anstatt weniger. Irgendwann fühlte sich die Nutzerin total ausgebrannt und überarbeitet und fragte schließlich das I Ging um Rat. Ihre Arbeitssituation beschrieb sie folgendermaßen: „Ich fühle mich wie in Treibsand gefangen: Egal, wie sehr ich mich anstrenge, egal, viel ich arbeite: Die Aufgaben hören nie auf. Es wird immer mehr. Alles bleibt an mir hängen.“
Die Antwort, das das I Ging der Nutzerin gibt, lautet: 22 – Anmut
Hexagramm 22 – Anmut beginnt mit dem Trigramm Li, das Feuer, und verweist auf eine wichtige Grenze: die Grenze zwischen einem selbst und dem oder den Anderen. Vielleicht ist dies auch schon der springende Punkt bei der herausfordernden Situation, in der sich die Nutzerin befindet: Wo genau verläuft die Grenze innerhalb des neuen, gemeinsamen Projekts mit ihrem Kollegen? Oder anders formuliert: „Welche Aufgaben sind tatsächlich ihre Aufgaben in dieser Zusammenarbeit – und welche Arbeiten übernimmt sie, ohne dass diese wirklich zu ihrem Aufgabenbereich gehören würden?“
Wir untersuchen diesen Punkt etwas genauer und arbeiten heraus, unter welcher Prämisse – und vor allem mit welcher Aufgabenteilung – sie in das gemeinsame Projekt mit ihrem Kollegen eingestiegen ist. Die Liste ihrer Aufgaben ist übersichtlich und handhabbar. Als wir diese Liste jedoch mit den Anforderungen vergleichen, um die sie sich in den letzten Wochen gekümmert hat, fällt sofort auf: Vieles davon war nicht abgesprochen bzw. fällt gar nicht in ihren zugesagten Aufgabenbereich. Es gab eine erschreckend große Anzahl kleiner Bitten und Nebenaufgaben, um die sie sich – weil sie ein netter und hilfsbereiter Mensch ist – zusätzlich gekümmert hat, die aber tatsächlich überhaupt nicht zu ihrem Aufgabengebiet im gemeinsamen Projekt gehören, was ihr aber wiederum erst jetzt klar wird.
Im weiteren Verlauf wandelt sich das Trigramm Li zu Kan, das Wasser, und verweist darauf, dass die Umwelt die uns im Außen begegnet, etwas mit uns selbst zu tun hat. Auf den Fall der Nutzerin gewendet heißt das: Da ist kein hinterhältiger Projektpartner, der die Nutzerin mit Aufgaben überhäuft. Sondern es gibt etwas in ihr selbst, ein altes Programm, das hier aktiviert wird. Welches Programm ist es, woher stammt es – und wie kann die Nutzerin es deaktivieren? Wie ist der Knopf beschaffen, der gedrückt werden muss, damit sie sich so verhält, wie sie es in ihrer Projektpartnerschaft getan hat, also arbeiten bis zur totalen Erschöpfung?
Mit diesem Gedanken entlasse ich sie aus unserer gemeinsamen Sitzung. Und versichere ihr, dass es die Mühe wert ist, dieser Frage nachzugehen. Denn aus Kan entwickelt sich im weiteren Verlauf des Hexagramm das Trigramm Zhen, der Donner. Wenn sie es schafft, die Frage nach ihrem inneren Knopf, der sie in die Selbstausbeutung treibt, zu beantworten und ihr Reaktionsmuster zu ändern, dann wird dies Auswirkungen auf ihr Leben haben. Und zwar in der Form, dass sie damit einen Samen legt, der irgendwann Frucht tragen und sie schließlich zu einer Bestandsaufnahme (Zhen entwickelt sich zu Gen, der Berg) inspirieren wird: Was praktiziere ich bisher? Und was von alle dem passt nicht länger zu dem neuen Ort, an dem ich inzwischen angelangt bin? Welche alten, überkommenen, überflüssigen Muster kann ich jetzt endlich loszulassen? Um sie dann durch neue, frische Muster zu ersetzen, die ich mit klarem, leeren Geist entwickelt habe: Mit Anfängergeist.
Noch eine ältere Fallstudie
Ich habe kürzlich einer Familienaufstellung beigewohnt, in der es um eine unerklärlich starke Anziehung ging, die das Lebensgefüge des Aufstellers in Frage stellt bzw. bedroht. Später befrage ich das I Ging um ein Zeichen für die Gesamtsituation – also von der Ausgangskonstellation bis zur gelöste Endstellung – zu erhalten. Als Antwort bekam ich Zeichen 22 – die Anmut.
Am Anfang des Zeichens 22 – die Anmut stehen Li, das Feuer (unteres Trigramm) und Kan, das Wasser (erstes Kernzeichen). Diese beiden Trigramme finden sich auch im Zeichen 63 – nach der Vollendung und gelten als ideale Kombination: das Feuer (unten) wärmt das Wasser (oben). Psychologischer könnte man vielleicht sagen, dass Li und Kan einen Prozess darstellen, bei dem intellektuelle Klarheit tief in die Persönlichkeit integriert wird, sich Kopfwissen also zu tief wurzelndem Bauchwissen wandelt.
Tatsächlich ist der Aufsteller verwirrt über seine Gefühle, die sehr präsent aber auch unerklärlich sind. Feedbacks von Repräsentanten tragen nur weiter zur Verwirrung bei. Erst als die Möglichkeit einer Projektion in die Betrachtung einfließt und diese dann personifiziert und genauer untersucht wird, lichtet sich das Dunkel. Li, das Feuer (unteres Trigramm) wandelt sich zu Kan, das Wasser (erstes Kernzeichen), die genauere Untersuchung der Projektion macht die anfangs verwirrenden Bauchgefühle plötzlich verständlich und nachvollziehbar.
Aus diesem tiefen Erkennen eigener, teilweise unbewusster Beweggründe (Kan) ergeben sich zwingende Konsequenzen – und hier ist rückblickend für mich besonders interessant, den Ablauf der Trigramme detailliert zu betrachten. Von der Aufstellung blieb mir als nächster Schritt im Ablauf vor allem das Abschiednehmen (Gen) in Erinnerung. Tatsächlich entwickelt sich Kan aber zunächst zu Zhen (zweites Kernzeichen, der Donner), ein Zeichen, das für Urteils- und Entscheidungsvermögen und für die entschlossene Umsetzung der getroffenen Entscheidungen steht. In der Familienaufstellung werden an dieser Stelle Grenzen gezogen und Lebensbereiche voneinander getrennt, die lange Zeit unheilvoll miteinander verflochten waren.
Den Abschluss des Zeichens 22 – die Anmut bildet schließlich der Übergang Zhen, der Donner–Gen, der Berg (oberes Trigramm): erst nach der Grenzziehung folgt Loslassen und Abschiednehmen. Tatsächlich war die vom Aufsteller übermächtig empfundene Anziehung Höhepunkt eines nicht genommenen Abschiedes, der sein Leben über viele Jahre geprägt hatte.
Die Grenzziehung (Zhen), die die zwei unheilvoll miteinander verbunden Wirklichkeiten endlich trennt, hält für den Aufsteller die Aufgabe bereit, jetzt endlich all jene Gefühle, Gedanken und Bindungen loszulassen, die für sein Leben schon längst alle Relevanz verloren haben.
Fragestellungen
- Die Frage einer Nutzerin lautete: „Wie geht es mit meiner Gesundheit weiter?“
Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/787887.htm