Zu Hexagramm 28 – des Großen Übergewicht erreichten mich verschiedene – zum Teil dramatische – Situationsbeschreibungen. Was ist der gemeinsame Nenner? Vielleicht, wie wichtig es ist, sich im dunkelsten Moment zu zentrieren, sich auf sich selbst zu besinnen: „Ich, ich, ganz Ich!“
Fallgeschichte
Eine Nutzerin empfindet ihre Ehe seit langem als Sackgasse. Sie hatte jahrelang eine heimliche Beziehung, litt aber unter dem Doppelleben. Im vergangenen Jahr wurde ihr Sohn bei einem Unfall schwer verletzt; seitdem kümmern sich die Eheleute gemeinsam um das nun dauerhaft behinderte Kind. Der Geliebte hat sich inzwischen endgültig von ihr getrennt, die Ehe ist nur noch eine leere Hülle. Sie empfindet ihre Lebenssituation als belastend und unglücklich. Seit drei Jahren übt sie regelmäßig Qigong und Taiji.
Wer bin ich eigentlich? – Diese Frage klingt im Hexagramm 28 – des Großen Übergewicht deutlich an und spiegelt sich auch in der Fallgeschichte wider. Hier wird eine Struktur überlastet, ein Gleichgewicht ist bedroht, etwas ist am kippen. Jemand hält etwas so lange aus bis das ganze System fast zusammenbricht. Und zugleich eröffnet sich die Moment die Möglichkeit, etwas zu klären, was lange unbeachtet geblieben ist.
Was die Nutzerin erlebt, ist zweifellos dramatisch. Aber hier liegt auch die Botschaft des Hexagramms: Eine tragende Struktur ist überfordert – und daraus ergibt sich die Notwendigkeit, das Bestehende zu überdenken, neu zu ordnen und alte Vorstellungen loszulassen. Denn das, was das Ich trägt, muss nicht stark erscheinen – es muss symbolisch eingebunden sein. Damit ist gemeint, dass das Bild, das ich von mir habe, möglichst gut mit dem Gefühl, das ich in mir selbst habe, übereinstimmen soll.
Das ist nicht einfach. Denn die Sprache, mit der wir über uns selbst sprechen, ist immer die Sprache der Anderen – eine Sprache aus Bedeutungen, Zuschreibungen und Bildern, die wir nicht selbst geschaffen haben (siehe unten: Exkurs Psychoanalyse).
Hexagramm 28 – des Großen Übergewichts beginnt mit Sun, der Wind / Baum. Es steht für Durchsetzungskraft, Mut, Führungsstärke – aber auch für die Fähigkeit, sich abzugrenzen. Es geht um die Frage „Wo stehe ich? Und wo stehen die anderen?“
In den beiden Kernzeichen – Qian, der Himmel – wird diese Frage weiter vertieft. Qian fordert uns auf, uns intensiv mit unserem Ich auseinanderzusetzen: Es geht darum, uns selbst zu spüren, zu erkennen, uns zu verorten. Jenseits aller gesellschaftlichen Rollen und Fremdzuschreibungen gibt es dieses tiefe Gefühl für das Eigene – für das, was ich wirklich bin. Und genau dieses Gefühl gilt es wiederzubeleben. Qigong und Taiji können wunderbare Wege dorthin sein.
Und wenn wir dann bereit sind, wenn wir es wieder spüren, dieses Ich, das wir sind – dann ist es Zeit, wieder in den Austausch mit der Welt zurückzukehren. Dui, der See, das obere Trigramm, steht für genau diesen Austausch. Denn Beziehung und Begegnung gehören zu unserem Wesens – wir sind und bleiben soziale Geschöpfe.
Weitere Fragestellungen zu Hexagramm 28
- Eine Nutzerin fragt das I Ging: „Werde ich den Mann treffen, von dem ich glaube, dass ich ihn lieben kann?“
- Ein Nutzer fragt: „Wie wird sich meine berufliche Situation entwickeln?“, ein anderer: „Wie steht es um meine Karriere?“
- „Wird mich S. eines Tages doch noch heiraten?“ fragt einer andere Nutzerin. Sie kennt den deutlich älteren S. seit mehreren Jahren, die beiden haben über Heirat und Kinder gesprochen. Doch S. macht keine Anstalten, irgendetwas davon in die Tat umzusetzen, die beiden sind noch nicht einmal in einer festen Beziehung. Hält S. die Nutzerin hin?
- Eine Nutzerin schreibt: „Ich befinde mich gerade mitten in einem Wandlungssturms. Derzeit stehe ich vor einer Entscheidung, wie es finanziell und beruflich weitergehen soll. Es gibt zwei Möglichkeiten. Für eine der beiden Möglichkeiten antwortet das mir das I Ging mit Hexagramm 28 – des Großen Übergewicht. Für die andere mit Hexagramm 19 – die Annäherung.“
Exkurs: I Ging und Psychoanalyse
Hexagramm 28 – des Großen Übergewicht
Schlagworte: Ich-Struktur und Identitätsbildung | Identitätskrise | Ich, Schuld und moralische Forderungen
Die psychoanalytische Theorie zeigt uns: Das Ich ist keine stabile Einheit, wir besitzen keinen festen inneren Kern. Was wir als „Ich“ erleben, ist vielmehr eine fragile Konstruktion, die sich im Spannungsfeld zwischen Es, Über-Ich und äußerer Realität herausgebildet hat. Das Ich ist dabei durch Prozesse der Spiegelung, der symbolischen Einordnung und der sozialen Anerkennung entstanden und muss sich jeden Tag aufs Neue mit unserer Lebenswirklichkeit auseinandersetzen indem es äußere Einflüsse integriert, ausbalanciert und verarbeitet.
In dieser inneren Struktur stellen Es und Über-Ich zwei unterschiedliche Pole dar:
- Das Es ist Träger der unbewussten Triebe, Wünsche, Impulse und Affekte. Es ist die Quelle psychischer Energie – aber auch möglicher innerer Konflikte, nämlich dann, wenn seine Impulse mit den Regeln der Außenwelt kollidieren.
- Das Über-Ich hingegen ist die Instanz, die moralische Forderungen stellt: Es urteilt, vergleicht, kontrolliert. Als innere Stimme sprechen hier die verinnerlichten Normen der Eltern und der Gesellschaft zu uns; das Über-Ich hilft uns, Verantwortung zu übernehmen und Orientierung zu finden.
Wenn dieses Gefüge aus dem Gleichgewicht gerät, entsteht innere Überforderung. Das Über-Ich kann in übersteigerter Form so stark werden, dass sich das Subjekt fremdbestimmt fühlt – eingeklemmt zwischen Schuldgefühlen, überhöhten Ansprüchen und dem Wunsch nach Entlastung. Das Ich verliert dann seinen inneren Ruhepol und die Folge kann eine Identitätskrise sein, also der Zusammenbruch der symbolischen Kohärenz, das Gefühl, sich selbst fremd oder uneindeutig zu sein.
In der Theorie von Jacques Lacan zeigt sich diese Krise als Spaltung des Subjekts. Ohnehin ist für ihn ist das Subjekt nie ganz mit sich identisch, weil es sich nicht aus sich selbst heraus konstituiert, sondern über die Sprache der Anderen – über Signifikanten, Zuschreibungen und Bilder, die es nicht selbst geschaffen hat. Es ist damit immer auch anders als das Bild, das es von sich hat – es ist immer schon ein Subjekt des Mangels.
Die Krise beginnt dort, wo diese sprachlichen Zuschreibungen nicht mehr tragen, wo der symbolische Rahmen zerbricht. In solchen Momenten geraten Selbstbild, Werte und soziale Rollen ins Wanken. Der innere Druck des Über-Ichs kann dabei ebenso destabilisierend wirken wie ein Übermaß an nicht integrierten Triebimpulsen. Das Ich erlebt sich als unzulänglich, ohnmächtig oder schuldig – und reagiert mit Rückzug, Erschöpfung, aggressiver Abwehr oder narzisstischer Kränkung.
Die Übersichtsseite zu diesem Hexagramm finden Sie hier:
https://www.no2do.com/hexagramme/877778.htm