64 – vor der vollendung

Fragestellungen

Im Lauf der letzten Wochen teilten Nutzer drei Szenarien mit mir, auf die das I Ging jeweils mit Hexagramm 64 – vor der Vollendung geantwortet hatte. Im einzelnen erhielt ich folgende Situationsbeschreibungen:

  • Situation A: Es geht um eine etwas undurchsichtige Beziehung. Nutzerin A befragt das I Ging, was in dieser Angelegenheit das Beste für sie sei.
  • Situation C: Während der letzten 16 Jahre war Nutzer C in einem sehr speziellen Sozial-, Lern- und Arbeitsumfeld engagiert. Seit etwa zwei Jahren mehren sich die Anzeichen, das etwas Neues für ihn ansteht. Falls dem so ist, würde das für ihn große Veränderungen nach sich ziehen. Er befragt das I Ging, was sein neuer Lebenszyklus für ihn bereithält.
  • Situation B: Um seine Ehe zu retten hat sich der Nutzer B von einer ihm sehr wichtigen Person radikal abgewendet. Er liebt seine Frau und seine Kinder. Dennoch geht ihm diese andere Frau einfach nicht aus dem Sinn. Eigentlich möchte er so gerne ein guter Mensch sein, mit sich und der Welt im Reinen. Aber momentan fühlt er sich meilenweit davon entfernt. Die Situation macht ihm sehr zu schaffen und quält ihn. Seine Frage an das I Ging: „Wie lange muss ich durchhalten bis das weggeht, und wie kann ich dabei nicht nur meiner Familie treu sein, sondern auch mir selbst?“
  • Ein Nutzer schreibt: „Seit 4 Jahren hege ich sehr starke Gefühle für meine Professorin. Ich bin überzeugt, dass auch sie für mich empfindet, aber bisher hat sie sich mir gegenüber immer nur 100% professionell verhalten. Meine Frage an das I Ging lautete, ob es in unserem höchsten Interesse sei, nach meinem Abschluss ein Liebespaar zu sein.“

Fallstudie

Im Hexagramm 64 – vor der Vollendung wechseln sich die beiden Trigramme Kan, das Wasser (unteres Trigramm und zweites Kernzeichen) und Li, das Feuer (erstes Kernzeichen und oberes Trigramm) ab. Der Ausgangspunkt ist Kan, das Wasser, der Endpunkt Li, das Feuer.

Kan, das Wasser, symbolisiert unseren seelischen Urgrund, den wesentlichen, stabilen und Generationen überdauernden Aspekt unseres individuellen Daseins. In diesem Urgrund ruht unsere Weisheit, unsere eigene, intuitive Lebensklugheit, unsere Essenz, aber auch das Generationen übergreifende Erbe unserer Ahnen. Es ist der Boden, in dem wir wurzeln und aus dem heraus wir wachsen und uns ins Hier und Jetzt entfalten.
In vielen Interpretationen zum I Ging wird Kan tendenziell negativ bewertet und als gefährlich eingestuft. Ich verstehe warum: Kan hat eine Eigendynamik, die unser Intellekt nur schwer kontrollieren kann. Möglicherweise ist unser Urgrund der sprichwörtliche Keller voller Leichen. Aber ziemlich sicher gibt es in diesem Keller mindestens genauso viele Schätze zu heben. Ich gehe davon aus, dass sich beide Aspekte in etwa die Waage halten und wir auf jeden Fall gut daran tun, uns mit unserem Urgrund zu verbinden. Denn alle Handlungen, die wir von diesem Ort aus initiieren, haben eine besondere Qualität, sie fühlen sich auf besondere Weise richtig an.
Die drei o. g. Nutzer, beschreiben jeweils ganz unterschiedliche Lebenssituationen. Ich habe versucht, ihre jeweiligen Fragestellungen in Hinblick auf Kan, unseren Urgrund, zu vereinfachen.

  • Nutzerin A: Was soll ich tun – ich spüre Verlockung in gefährliche Gefilde.
  • Nutzer B: Ich will ein aufrechtes Leben führen – etwas will mich von rechten Weg abbringen.
  • Nutzer C: Etwas neues steht an. Ich kann es vage spüren. Wohin tendiert es?

Was bestimmt eigentlich unser Schicksal, also die Qualität unserer Welterfahrung? Verlockungen in gefährliche Gefilde und auf falsche Wege wirken wie beunruhigender Magnetismus in eine uns abträgliche Richtung.
In den östlichen Religionen gibt es das Konzept von Karma, das spirituelle Gesetz von Ursache und Wirkung. Interessant wird dieses Konzept durch die Lehre von der Leerheit der Dinge (śūnyatāvāda), die, sehr kurz gefasst, besagt, dass alle Ereignisse in ihrer Natur neutral sind (1). Erst unsere persönliche Gestimmtheit („Karma“) führt dazu, dass wir sie als positiv bzw. negativ erleben. Ein Beispiel: Es beginnt zu regnen. Der einsetzender Regen ist ein in seiner Natur neutrales Ereignis. Wir können es in unserem persönlichen Erleben jedoch als positiv („Sehr gut – mein Garten brauchte dringend Wasser!“) oder negativ („Oh nein, ich habe meinen Schirm vergessen!“) erfahren.
Unsere innere Gestimmtheit funktioniert ähnlich wie die Frequenzwahl eines Radios: sie bestimmt, welche Musik wir zu hören bekommen bzw. welche Art von Lebenserfahrungen wir machen. Zugleich ist sie aber – als Teilaspekt unseres seelischen Urgrundes – intellektuell schwer fassbar. Am ehesten vielleicht noch, indem wir genau sehr beobachten, welche Art von „Schicksal“ sich vor unseren Augen für uns entfaltet (analog können wir ja auch an der Musik im Radio in etwa ableiten, welche Frequenz eingestellt ist).
Womit wir bei Li (das Feuer; erstes Kernzeichen und oberes Trigramm) angelangt sind. Li entspricht dem Funktionskreis Dünndarm der chinesischen Medizin und ist damit die Instanz unseres Wesens, die Wichtiges von Unwichtigem unterscheidet. Denn um nicht im Chaos zu versinken müssen wir die Fülle des Lebens und unserer Erfahrungen unweigerlich sortieren. Li differenziert unsere Gedanken, unterscheidet Tatbestände, klärt Beziehungen und ordnet Gefühle.
Unser seelische Urgrund (Kan), und hier speziell unsere innere Gestimmtheit bestimmen, auf welche Art wir die an sich neutralen Ereignisse in unserem Leben erfahren. Dieses Schicksal können wir nur über die Hintertür beeinflussen: indem wir sorgsam wahrnehmen, welche karmischen Magnetismen unsere Welterfahrung bestimmen – und mit Hilfe von Li sanft gegensteuern.
Verlockung in gefährliche Gefilde, Verführungen in abseitige Wege sind Hinweise. Hinweise, dass es in unserem eigenen Urgrund Anziehungen gibt, die hier und jetzt auf uns wirken. Wir können diesen Anziehungen nachgeben. Oder wir können ihnen Einhalt gebieten und gegensteuern: indem wir ganz bewusst unseren eigenen Fokus ändern und uns auf das konzentrieren, was wir erreichen wollen. Irgendwann werden die alten Magnetismen nachlassen.

  • Nutzerin A: Klarheit im eigenen Handeln ist ein gutes Antidot für undurchsichtige Beziehung
  • Nutzer B: Der Nutzers fragt: „Wie kann ich […] nicht nur meiner Familie treu sein, sondern auch mir selbst?“ Ich glaube, der „fatalen Anziehung“ zu einer anderer Frau nachzugeben bedeutet eher nicht, dass man sich damit treu ist. Es ist ja auch kein Beweis für Treue zu sich selbst, wenn man der eigenen Trägheit nachgibt und die Joggingrunde ausfallen lässt. Dieses Nachgeben geschieht viel eher aus einem Mangel der Treue zu sich selbst – und den eigenen Prinzipien. Denn niemand geht regelmäßig Joggen, weil man stets Lust darauf hat. Sondern weil man es sich aus sehr guten Gründen vorgenommen hat und konsequent durchzieht. Persönliche Integrität ist, je nach persönlicher
  • Disposition, immer ein mehr oder weniger harter Kampf gegen eigene Schwächen.

Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/878787.htm