Fallstudie
„Wie kann ich es schaffen, in meinem Beruf selbständig zu arbeiten?“ fragt eine Nutzerin das I Ging und erhält als Antwort Hexagramm 52 – das Stillhalten. Später erklärt sie mir den Hintergrund ihrer Frage folgendermaßen: „Seit ich dieses Jahr eine Fortbildung besucht habe, spiele ich immer öfter mit dem Gedanken, mir ein zweites Standbein (Selbständigkeit) aufzubauen. Der Referent dieser Fortbildung hat mich sehr beeindruckt, und ich wollte schon lange mal etwas Neues ausprobieren und auch beruflich eigene Wege gehen.“
„Standbein und Spielbein“ fällt mir spontan ein, als ich mit Nutzerin spreche. Das Standbein, unser fester Stand, verwurzelt uns im Untergrund und nährt uns. Und unser Spielbein lässt uns Freiheit erleben, Neues ausprobieren, spielerisch und manchmal wagemutig sein.
In Wikipedia finde ich zum Thema Stand- und Spielbein folgendes:
Der physiologische Bewegungsablauf des Menschen im Gehen besteht im Wechsel zwischen Stand- und Spielbein. Das Standbein bleibt in diesem Bewegungszyklus mit dem Boden verbunden und zumeist in gestreckter Haltung, während das Spielbein den Boden verlässt und im Kniegelenk leicht eingeknickt ist, während es das Bein hebt um den Schritt zu vollführen. Beim Absenken des Beines wird der Unterschenkel zunehmend gestreckt, bis er den Boden erreicht. Damit wird das Spielbein zum Standbein und das Standbein zum Spielbein.Wikipedia
Solange wir uns bewegen, wechseln die Beine dynamisch ihre Funktion als Stand- und Spielbein. Erst das Stillstehen beendet diesen Wechsel.
Hexagramm 52 – das Stillhalten beginnt mit Gen, der Berg als unterem Trigramm. Gen steht für unsere Fähigkeit loszulassen und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Nutzerin möchte sich ein neues Standbein aufbauen – doch bevor ein Bein zum Standbein wird, ist es – siehe oben – ein Spielbein. Die angestrebte Selbständigkeit sollte spielerisch – als Spielbein – beginnen.
Wie also kann die Nutzerin ihr Spielbein befreien und den ersten Schritt in die Selbständigkeit wagen? Indem sie Überflüssiges, Belastendes und Unnötiges loslässt und ihre Kräfte konzentriert. Je weniger sie das Standbein belastet, desto leichter kann es den Körper zuverlässig tragen. Im Taiji bedeutet Loslassen „in die Wurzel sinken“, sich fest zu verwurzeln. Erst wenn eine gute und sichere Verwurzelung erreicht ist und das Standbein den Körper zuverlässig trägt, kann sich das Spielbein vertrauensvoll vom Boden lösen und einen neuen Schritt einleiten.
Auf das untere Trigramm Gen, der Berg folgt Kan, das Wasser (erstes Kernzeichen). Kan hilft uns, unseren Weg zu finden. Wenn wir loslassen und uns verwurzeln, verbinden wir uns wieder mit unserem seelischen Urgrund: unserer eigenen, intuitiven Lebensklugheit, die wir auf dem Weg ins Hier und Jetzt gesammelt haben und aus der wir schöpfen können. Es tut gut, mit diesem Urgrund verbunden zu sein. Alle Handlungen, die wir von hier aus initiieren, haben eine besondere Qualität, sie fühlen sich auf besondere Weise „richtig“ an. Aus unserer guten Verwurzelung im eigenen Urgrund heraus findet unser Spielbein dann ganz von alleine – intuitiv – seinen Weg.
Aus Kan, das Wasser (erstes Kernzeichen) wird im Verlauf des Hexagramms 52 – das Stillhalten Zhen, der Donner (zweites Kernzeichen). Zhen bedeutet Entscheidung und Handlung. Wenn Zhen aus Kan entsteht, dann wird unser Handeln von unserem Bauchgefühl getragen. Und das ist gut so, denn unserem Bauchgefühl stehen – jenseits der Sprache – viel mehr Informationen zur Verfügung als dem schärfsten Intellekt. Eine Bauchentscheidung ist in der Regel viel weiser und tragfähiger als die beste Kopfentscheidung.
Zhen, der Donner (zweites Kernzeichen) wird schließlich zu Gen, der Berg (oberes Trigramm). Hier vollendet sich die Gewichtsverlagerung: das Spielbein wird zum neuen Standbein…
Eine weitere Fallstudie
„Darf ich mit Reiki und alternativen Methoden heilen?“ lautete die Frage eines anderen Nutzers, auf die das I Ging ebenfalls mit Hexagramm 52 – das Stillhalten antwortete. Zum Hintergrund seiner Frage erzählte er mir später, dass er noch immer in seinem erlernten Beruf als Metzger arbeitet, was ihm aber immer schwerer fällt, auch weil dieses Umfeld seine spirituellen Interessen nicht teilt. Seit über 15 Jahren beschäftigt er sich unter anderem intensiv mit Reiki und hat großen Respekt vor dieser Arbeit. Daher seine zurückhaltende Frage, ob er – als Metzger – anderen mit Reiki helfen dürfe.
Ich habe länger über den Metzger, der Reiki praktiziert, nachgedacht. Leben ist Entwicklung. Wir fangen irgendwo an, an einer bestimmten Punkt im Leben, und von dort aus entwickeln wir uns weiter. Manche Menschen gehen einen längeren Weg zurück, andere einen kürzeren. Eine Ausgangsposition „Metzger“ und eine (vorläufige) Endposition „Reiki“ liegen dabei eher weit auseinander.
Oder vielleicht auch nicht. Metzger sein, Ochsen zerlegen kann man auch auf sehr spirituelle Weise. Im Zhuangzi (Dschuang Dsï: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland) gibt es dazu die Geschichte eines Kochs:
„Der Fürst Wen Hui hatte einen Koch, der für ihn einen Ochsen zerteilte. Er legte Hand an, drückte mit der Schulter, setzte den Fuß auf, stemmte das Knie an: ritsch! ratsch! – trennte sich die Haut, und zischend fuhr das Messer durch die Fleischstücke. Alles ging wie im Takt eines Tanzliedes, und er traf immer genau die Gelenke.
Der Fürst Wen Hui sprach: ‚Ei, vortrefflich! Das nenn‘ ich Geschicklichkeit!‘ Der Koch legte das Messer beiseite und antwortete zum Fürsten gewandt: ‚Der SINN ist’s, was dein Diener liebt. Das ist mehr als Geschicklichkeit. Als ich anfing, Rinder zu zerlegen, da sah ich eben nur Rinder vor mir. Nach drei Jahren hatte ich’s soweit gebracht, daß ich die Rinder nicht mehr ungeteilt vor mir sah. Heutzutage verlasse ich mich ganz auf den Geist und nicht mehr auf den Augenschein. Der Sinne Wissen hab‘ ich aufgegeben und handle nur noch nach den Regungen des Geistes. Ich folge den natürlichen Linien nach, dringe ein in die großen Spalten und fahre den großen Höhlungen entlang. Ich verlasse mich auf die (anatomischen) Gesetze. Geschickt folge ich auch den kleinsten Zwischenräumen zwischen Muskeln und Sehnen, von den großen Gelenken ganz zu schweigen.
Ein guter Koch wechselt das Messer einmal im Jahr, weil er schneidet. Ein stümperhafter Koch muß das Messer alle Monate wechseln, weil er hackt. Ich habe mein Messer nun schon neunzehn Jahre lang und habe schon mehrere tausend Rinder zerlegt, und doch ist seine Schneide wie frisch geschliffen. Die Gelenke haben Zwischenräume; des Messers Schneide hat keine Dicke. Was aber keine Dicke hat, dringt in Zwischenräume ein – ungehindert, wie spielend, so daß die Klinge Platz genug hat. Darum habe ich das Messer nun schon neunzehn Jahre, und die Klinge ist wie frisch geschliffen. Und doch, so oft ich an eine Gelenkverbindung komme, sehe ich die Schwierigkeiten. Vorsichtig nehme ich mich in acht, sehe zu, wo ich haltmachen muß, und gehe ganz langsam weiter und bewege das Messer kaum merklich – plötzlich ist es auseinander und fällt wie ein Erdenkloß zu Boden. Dann stehe ich da mit dem Messer in der Hand und blicke mich nach allen Seiten um. Ich zögere noch einen Augenblick befriedigt, dann reinige ich das Messer und tue es beiseite.‘ Der Fürst Wen Hui sprach: ‚Vortrefflich! Ich habe die Worte eines Kochs gehört und habe die Pflege des Lebens gelernt.'“ (Dsï 1986, 54-55)
Ich finde diese Geschichte inspirierend und insofern beeindruckend. Denn bei Meisterschaft bedeutet, einer Herausforderung mit dem Gespür für den richtigen Weg zu begegnen. Egal, ob es darum geht, einen Ochsen zu zerlegen, aus einen Baum zu Brennholz zu machen oder einen anderen Menschen zu heilen. Wenn man an der falschen Stelle ansetzt, ruiniert man das Werkzeug, vergeudet Energie und das Ergebnis ist schlecht. Wenn man aber die richtige Stelle trifft, dann geht alles ganz leicht und das Ergebnis ist fantastisch.
Meine Überzeugung ist, dass man die Meisterschaft, die man in einem Bereich erlangt hat, auch in anderen Bereichen anwenden kann. Denn Meisterschaft besteht vielleicht vor allem in einer gewissen Sensibilität, in einem Gespür für den richtigen Weg. Insofern geht es vielleicht gar nicht so sehr um die Frage ob Metzger oder Reiki, sondern eher darum, ob man in einem Bereich überhaupt Meisterschaft erlangt hat, ob man damit vertraut ist, feinfühlig zu erspüren, wo der richtige Weg liegt. Und das kann man als Metzger üben, oder auch beim Holzhacken. Und beim Reiki kommt einem das zugute.
Ja, das ist eine eigenwillige Interpretation. Und rein äußerlich betrachtet sind tote Tiere und Patienten in der Tat ziemlich weit voneinander entfernt. Und wie das für ihn zusammenpasst, müsste der Reiki-Metzger für sich selbst prüfen.
Aber vielleicht ist ein Teil von ihm auch gerne Metzger, und ein anderer gerne Reiki-Therapeut. Wenn es im Herzen keinen Konflikt gibt, dann braucht man auch keinen Konflikt zu konstruieren, finde ich, nur weil Außenstehende vielleicht einen Konflikt sehen wollen. Wenn man für sich selbst klar ist, wie die Dinge für einen zusammenpassen, dann darf man das auch so praktizieren.
Fragestellungen
Zu Hexagramm 52 – das Stillhalten habe ich noch weitere Anfragen erhalten:
- Ein Nutzer, der das Hexagramm 52 – das Stillhalten erhält, schreibt: „Ich befinde mich in einer ausweglosen Situation. Nichts geht mehr!“
- Ein Nutzer fragt: „Wie kann ich am besten mit dem Rauchen aufhören?“ Der Rat des I Ging: Hexagramm 52 – das Stillhalten.
- Eine Nutzerin hat Angst, ihren Job (und damit ein stabiles Einkommen) ohne Aussicht auf eine neue Stelle zu kündigen. Die Arbeitsmarktlage ist schwierig. Sie hat jedoch demnächst ein Vorstellungsgespräch und eine 25-prozentige Chance, da sie ist eine von vier Bewerbern in der zweiten Runde. Sie ist sehr an der neuen Stelle interessiert.
- Ein Nutzer fragt: „Was soll ich in der jetzigen Situation mit meiner Partnerin machen?“
- Ein Nutzer schreibt: „Ich war heutel wieder beeindruckt von der Tiefe hier und kaue an der Geschichte über die Koch/Ochsen. Sehr spannend – danke!“
Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/887887.htm