Hexagramm 04 – die Jugendtorheit ist glücksverheißend. Das Urteil besagt: „Jugendtorheit hat Gelingen…“ Aber das gilt nur, solange wir uns unvoreingenommen dem DAO, dem Lauf der Welt, hingeben, anstatt einen bestimmten Weg zu erzwingen. Oder anstatt, wie meist üblich, an unseren Autopiloten zu übergeben: unbewusste Steuermechanismen und automatisierte Handlungsmuster, die vielleicht vor langer Zeit Gültigkeit hatten, die aber hier und heute bedeutungslos sind.
Also alles wieder auf Anfang! Neugierig, unvoreingenommen, Anfänger-Geist… Klingt einfach, erfordert viel Mut, ist hohe Kunst. Weil… ach, da gibt es ja auch noch unsere üblichen Ängste. Es reicht nicht, dass der Weg vor uns aufleuchtet – wir müssen ihn schon auch gehen (wollen). Denn manchmal weicht er einfach eklatant von dem ab, was wir gewohnheitsmäßig tun, was sich für uns vertraut – und sicher! – anfühlt.
Klar, wir haben in unserem Leben schon auch ein paar Lektionen gelernt, sind falsch abgebogen und in Sackgassen gelandet. Das muss man jetzt nicht unbedingt alles nochmal wiederholen (so viel zum Anfänger-Geist). Aber… Vielleicht erst mal innehalten? Ruhig sein, sich genau anschauen,was da ist? Und dann… sich der Welt wie ein junger Tor hingeben…? :)
Fragestellungen
Einige Nutzer teilten mir die Fragen mit, die sie dem I Ging gestellt hatten. Hier ein Beispiel, weiter unten zwei Fallbeispiele.
- Ein Nutzer fragt: „Wo stehe ich überhaupt in meinem Lebensfeld (das ich als energetische Matrix begreife)?“ Er beschäftigt sich schon lange mit dieser Art von Fragestellungen („Woher komme ich? warum habe ich gerade dieses Leben gewählt oder bekommen?“), aber was ihm bisher gefehlt hat, war eine Anleitung zum praktischen Handeln.
- Ein Nutzer fragt: „Wie geht es mit meiner beruflichen Entwicklung weiter? Selbständigkeit oder angestellt bleiben oder beides parallel? Ich befinde mich beruflich gerade in einer Zwickmühle.“
- Eine weitere Nutzerfrage lautet: „Wohin führt mich mein Karriereweg, wenn ich die xy-Ausbildung mache?“
Fallstudie
Eine Nutzerin stellt dem I Ging die folgende Frage: „Was muss ich tun, um meine finanzielle Situation nachhaltig zu verändern/verbessern?“ Das I Ging antwortet ihr mit Hexagramm 04 – Jugendtorheit.
Äußere Situationen sind Spiegel unserer inneren Gestimmtheit. Die offenbar nicht zufriedenstellende äußere finanzielle Situation, die die Nutzerin erlebt, spiegelt wieder, was in ihrem Inneren, in ihrer Verwurzelung vorhanden ist und von dort aus ihre Realität bestimmt.
Unsere inneren Steuermechanismen funktionieren unbewusst und wir können mit unserem Tagesbewusstsein, unserem Intellekt, meist nicht direkt auf sie zugreifen oder sie auch nur klar wahrnehmen. Doch es gibt eine Möglichkeit, unsere inneren Impulse sichtbar zu machen: indem wir ihnen achtsam nachgeben und ihnen erlauben, in der materiellen Welt manifest zu werden – und dabei genau beobachten.
Aus unserer inneren Verwurzelung dringen ständig Impulse an die Oberfläche, um sich von dort aus in Handlungen auszudrücken. Das geschieht meist relativ automatisch, ohne dass unser Bewusstsein Notiz davon nimmt. Wir sind dabei wie eine Art Beifahrer in einem Fahrzeug, das auf Autopilot läuft.
In vielen Fällen ist das gut und richtig, unser Bewusstsein bleibt so frei für wirklich Wichtiges. Allerdings schleichen sich ab und an auch Fehlfunktionen in unserem Autopiloten ein, die dann zu negativen Ergebnissen – z. B. einer ewig schlechten finanziellen Situation – führen können. In so einem Fall ist es sinnvoll, den Prozess von Impuls → Handlung → Ergebnis (= Kan → Zhen → Kun) genau unter die Lupe zu nehmen. Im konkreten Beispiel der Nutzerin könnte man z. B. fragen: „Was passiert, wenn Sie Geld haben?“ Oder: „Wie gehen Sie üblicherweise mit lukrativen Angeboten um, Geld zu verdienen?“
Wenn wir unsere automatisierten Handlungsmuster genau beobachten, können wir manchmal Abläufe erkennen, die vor langer Zeit Gültigkeit hatten, die hier und heute aber bedeutungslos sind. Idealerweise lassen wir solche alte, un-zeitgemäße Muster los: Gen, der Berg.
Im Grunde ist Hexagramm 04 – Jugendtorheit die Einladung zu Trial-and-Error, zum ganz konkreten Ausprobieren: neugierig, unvoreingenommen, voll Anfänger-Geist (Shoshin). Klingt einfach, erfordert viel Mut, ist hohe Kunst.
Eine weitere Fallstudie
Ein Nutzer hat folgendes Anliegen: „Ich habe einen Brief an meine Exfreundin geschrieben, den sie mir auch knapp per Mail beantwortete. Danach habe ich ihr wieder einen Brief geschrieben, auf den keine Antwort mehr kam. Ich befragte das I Ging, wie sich die Situation zwischen meiner Exfreundin und mir entwickeln würde, wenn ich ihr nicht weiter schreibe, solange sie sich nicht bei mir meldet. Die Antwort des I Ging lautete 04 – die Jugendtorheit.“
Hexagramm 04 – die Jugendtorheit beginnt mit Kan, dem Wasser, als unterem Trigramm. Das obere Trigramm zeigt Gen, der Berg. Wasser, das sich im Berg sammelt, bildet eine Quelle, daher das Bild der Quelle, das in den klassischen Texten zu Hexagramm 04 – die Jugendtorheit immer wieder erwähnt wird.
Der Zustand des Wassers als Quelle ist nur einer von vielen, neben Rinnsal, Bach, Fluss, Strom, Meer, Dunst, Wolke, Regen. Wasser symbolisiert eine kreislaufende Bewegung. Fließendes Wasser ist gut, stagnierendes Wasser ist es nicht. Das Wasser in der Quelle, dem Bild des Hexagramms, stagniert nicht, es an einem Punkt, den sie bald wieder verlassen wird, um einen neuen Aggregatzustand einzunehmen. Das besondere am Aggregatzustand Quelle ist, dass das Wasser hier viele Möglichkeiten hat, seinen Weg zu wählen.
Das erklärt auch den Namen des Hexagramms: Jugendtorheit . Wie das Wasser in der Quelle hat der (mehr oder minder junge) Mensch viele Möglichkeiten, seinen Lebensweg zu wählen. Und weil ihm – wie dem Wasser in der Quelle – der Überblick fehlt, steht Torheit hier für Unerfahrenheit und idealerweise die Erkenntnis: „Ich habe keine Ahnung, welcher Weg der richtige ist. „
Wie kann man herausfinden, wohin die Reise gehen wird? Ganz einfach: indem wir nach Innen, auf unsere eigenen inneren Impulsen hören (Kan, das Wasser; die Rückbindung an unseren eigenen Urgrund) und sie in uns widerhallen lassen. Um dann, diesem Impulse folgend, einen ersten Schritt zu tun (erstes Kernzeichen; Zhen, der Donner). Wie der Nutzer, der seiner Exfreundin einen Brief schreibt, auch wenn vielleicht die rationale, taktisch geschicktere Entscheidung gewesen wäre, es nicht zu tun.
Das erste Kernzeichen Zhen, der Donner, wandelt sich im weiteren Verlauf des Hexagramms zu Kun, der Erde. Der aus innerem Impuls geborene erste Schritt trifft auf fruchtbaren Grund und könnte wachsen – zumindest theoretisch. Doch tut er es? Wie können wir herausfinden, von welcher Qualität unsere Impulse sind? Intensive Reflektion ist eine Möglichkeit – doch einfacher, menschlicher ist es, ihnen, zumindest kurz, nachzugeben.
Stellen wir uns unsere inneren Impulse als ein Tütchen gemischter Samen vor: wie können wir herausfinden, welche Samen fruchtbar, und welche Samen alt sind? Welche Samen nützlich, und welche Samen unnütz? Am leichtesten wohl, indem wir sie in ein frisches Beet sähen und aufmerksam beobachten, was aus ihnen wird. Die alten Samen werden nicht keimen, und die unnützen Samen erkennen wir hoffentlich früh genug, um sie zu jäten.
Keimt der Same also, der Impuls, der Exfreundin einen ersten, einen zweiten Brief zu schreiben? Es ist eine noble Geste, eine Beziehung noch einmal in einem Brief zu reflektieren. Aber dann ist es auch weise, loszulassen (Gen, der Berg, oberes Trigramm). Oder, wie es Richard Bach formuliert:
If you love someone, set them free. If they come back they’re yours; if they don’t they never were.
[Übersetzung: Wenn du jemanden liebst, lass ihn/sie frei. Kommt er zu dir zurück, ist er dein. Tut er es nicht, dann gehörte er dir niemals.]
Ja, es ist gut, einen Brief zum Abschluss einer Beziehung zu schreiben. Aber es ist auch gut, die Antwort zu akzeptieren – wie auch immer sie lauten mag.
Das Wasser in der Quelle ist ein guter Lehrer: er fließt immer abwärts, den Weg des geringsten Widerstandes wählend. Für uns Menschen heißt das, Dinge anzunehmen, geschehen zu lassen – anstatt sie erzwingen zu wollen, mit unserem Kopf durch die Wand zu gehen. Das Hexagramm 04 – die Jugendtorheit ist glücksverheißend, das Urteil besagt: Jugendtorheit hat Gelingen… Aber das gilt nur, solange wir uns unvoreingenommen dem DAO, dem Lauf der Welt, hingeben, anstatt einen bestimmten Weg zu erzwingen. Denn das DAO weiß meist viel besser als wir selbst, was uns gut tut – und wer gut für uns ist.
Der Nutzer stellte am Ende seines Schreibens noch eine detaillierte Frage zu den kommentierenden Schriften, die es im Bezug auf Hexagramm 04 – die Jugendtorheit gibt. Er fragt: „Wer ist der Tor, wer ist der Lehrer?“
Ich glaube, der Tor, das sind immer wir – und das DAO, der Lauf der Welt, ist unser Lehrer. Wenn wir uns auf das DAO einlassen, macht es die Samen, unsere inneren Impulse, für uns sichtbar und ermöglicht uns Wachstum.
Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/878887.htm