Fragestellungen
- Die Prüfungszeit steht bevor. Eine Nutzerin wünscht sich für ihre Abschlussprüfung die bestmögliche Note. Sie hat jedoch das Gefühl, den Stoff noch nicht gut genug zu beherrschen. Soll sie die Prüfung verschieben? Ihre Frage an das I Ging: „Soll ich die Prüfung jetzt machen?“
- Eine Nutzerin hat folgende Frage: „Ruft er an, weil er immer noch die gleichen Gefühle hat wie ich? Ruft er nur aus Freundlichkeit an? Ruft er an, weil er mich genauso vermisst wie ich ihn? Empfindet er noch immer etwas für mich?“ Die Antwort des I Ging lautet 62 – des Kleinen Übergewicht.
Fallstudie
Eigentlich hatte ich sofort eine ein vages Gefühl für die Interpretation des Hexagramms zur zweiten Fragestellung, aber ich wollte sie noch nicht in Worte fassen. In den letzten Wochen habe ich viel über ein bestimmtes (Taijiquan-)Prinzip gelernt. Dieses Lebens- und Wirkprinzip wirklich zu verstehen ist ein Schlüssel für mich um das Zeichens 62 – des Kleinen Übergewicht zu verstehen.
Wie hängen Yin und Yang eigentlich zusammen? Es sind Gegensätze, ja. Yin, das Zusammenziehende, das Sinken, die Bewegung, die sich der Schwerkraft hingibt, und Yang, das Dynamische, das Wachsende, die Bewegung, die sich zum Himmel streckt. Yin wird zu Yang – das ist das (Grob-)Muster dieses Hexagramms. Aus anfänglichem Loslassen wird klare Entschlossenheit.
Aber zunächst geht es ums Loslassen (Gen, der Berg; unteres Trigramm). Und genau damit haben wohl die meisten Menschen Schwierigkeiten. Wir kleben einfach zu gerne an Dingen und Denkweisen. Sie geben uns Sinn, stiftet unsre Identität – und dann sollen wir etwas loslassen? Wir fürchten gähnende Leere, Sinnlosigkeit, Identitätsverlust. Und sind doch aufgefordert, uns all dem auszusetzen. Wozu?
Die Erfahrung, die ich in den letzten Tagen im Taijiquan-Unterricht gemacht habe, ist, dass das Loslassen, das Sinken in die Wurzel, der Rückzug am Anfang einer Bewegung steht. Denn meinem maßvollen (= meinem beabsichtigten Ziel angepassten) Loslassen folgt tatsächlich müheloses und zugleich kraftvolles Wachsen. Als gäbe es eine Kraft, die mich bei meiner Bewegung nach Oben unterstützt. Als sei der Erdboden eine Art Trampolin, das mich nach oben trägt.
Diese Körpererfahrungen des Tajiquan-Unterrichts repräsentiert ein Wirkprinzip, das für unser gesamtes Leben gilt: Sinken und Loslassen – um dann mühelos zu wachsen. Als sei der Urgrund unserer gesamten menschlichen Existenz ein einziges, elastisches Trampolin. Und was passiert wohl, wenn wir bei einem Trampolin immer „oben“ bleiben wollen? Dann hebt es uns auch nicht…
Und so beginnt das Hexagramm 62 – des Kleinen Übergewicht mit der Einladung, loszulassen (Gen, der Berg; unteres Trigramm). Im Fall der Nutzerin sind das vielleicht die vielen Fragen, die sich ausschließlich um die Befindlichkeit eines anderen Menschen drehen. Und die völlig vergessen lassen, das es auch ein Subjekt gibt, nämlich sie selbst. Wie fühlt sie sich eigentlich? Und was wünscht sie?
Sogar wenn es klare Antworten zu den vor ihr gestellten Fragen gäbe („Ja, er liebt dich!“ – „Nein, er will nur freundlich sein!„), was würden die bedeuten? Entscheidungen, die sie aufgrund dieser Antworten treffen könnte („Er liebt mich – also gehe ich zu ihm!„…) wären keine wirklich freien Entscheidungen, denn: was ist eigentlich mit ihr selbst („Liebe ich ihn überhaupt? Reichen meine Gefühle für eine ernsthafte Beziehung?„)?
Insofern ist der Hinweis des I Gings, nämlich erst einmal Loszulassen, ein sehr weiser Rat. Die Haltung, sich auf das Hier-und-Jetzt zu konzentrieren, wird auch in den Bildworten angedeutet: „So legt der Edle im Handeln das Übergewicht auf den Respekt, er legt bei Trauerfällen das Übergewicht auf die Trauer und legt bei Ausgaben das Übergewicht auf die Sparsamkeit.“ Das klingt fast wie der Ausspruch des Zen-Meisters, der sagt: „Wenn ich Tee trinke, trinke ich Tee, und wenn ich meditiere, meditiere ich.“ Und die Nutzerin? Ist die Nutzerin – mit ihren eigenen Gedanken, Gefühlen, Wünschen.
Aus Gen, der Berg (unteres Trigramm) entsteht in der weiteren Entwicklung des Hexagramms Sun, der Baum/Wind (erstes Kernzeichen): ein Wachstumsimpuls, der aus dem eigen Zentrum kommt. Jetzt, da wir unserem eigenen Inneren Aufmerksamkeit geschenkt haben und wieder mit unserem Wesenskern verbunden sind, kommt etwas – ganz mühelos! – in Bewegung. Und tritt ans Licht, wird sichtbar, beginnt, sich in der Welt zu manifestieren: Sun wird zu Dui, der See (zweites Kernzeichen). Dui repräsentiert die Öffnung vom Innen ins Außen. Es erlaubt dem Außen/der Umwelt, nach Innen zu dringen und Innerem, sich nach Außen hin auszudrücken. Es geht um ein aufmerksames Lauschen auf den Widerhall der eigenen Handlungen/Gefühle/Ansprüche, während frische Impulse aus der Umwelt zu uns dringen.
Das Hexagramm mündet in Zhen, der Donner (oberes Trigramm): eine Entscheidung, die schließlich nach Außen drängt und dort durch klare Handlung für alle sichtbar wird.
Georg Zimmerman weist in seiner Übersetzung darauf hin, dass der Originalwortlaut des Gesamtcharakters des Zeichens folgendermaßenlautet: „Kleines Guo ist Guo.“ Guo kann dabei sowohl „Übergang“ als auch „Übergewicht“ heißen. Seine Übersetzung des Gesamtcharakters lautet insofern: „Des Kleinen Übergewicht bedeutet einen Übergang.“
Halten wir uns vor Augen, welche Entwicklungsschritte das Hexagramm vorzeichnet: eine relativ kleine Handlung – ein einfaches Loslassen, ein winziger Perspektivwechsel (nicht mehr die Befindlichkeit es Freundes, sondern die eigene Befindlichkeit steht im Zentrum der Aufmerksamkeit) – führt zu einer großen Veränderung (plötzlich entstehen aus der eigene Befindlichkeit Entschlüsse und Handlungen). Macht das nicht den chinesischen Originalwortlaut verständlich? Kann man diese Entwicklung – der Flügelschlag eines Schmetterlings löst eine Lawine aus – besser ausdrücken als „Kleines Guo ist Guo?“
Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/887788.htm
Weitere Überlegungen
Was brauche ich nicht mehr?
Umschauen. Anfangen.
Der Intuition folgen –
und mehr und mehr Dinge loslassen.
Freiraum schaffen.
HandlungsSPIELraum
schaffen.
Quellenverzeichnis
— Zimmermann, Georg. 2007. I Ging – Das Buch der Wandlungen. Düsseldorf: Patmos.