Seit ich anfing, mich intensiver mit der Entschlüsselung der Hexagramme zu beschäftigen, war eine der wichtigsten Quellen, die mir den Weg wiesen, jenes Zitat von Wang Bi, in dem er über die Fischreuse spricht.
Er sagt:
Die Bilder gehen aus den Ideen hervor… Die Bilder sind die Reuse für die Ideen… Hat man sie [die Ideen] gefasst, so vergisst man die Reuse [die Bilder]. Wang Bi (nach Zimmermann 2007, 64 und Anmerkung 14)
Auch die Hexagramme des I Ging vermitteln Ideen, nämlich Vorstellungen davon, wie man sich in einer Situation idealerweise verhält. Die Ideen, die sich dabei in den Hexagrammen ausdrücken, sind abstrakt, allgemeingültig. Aber sie lassen sich mit Worten beschreiben, man kann sie mit Hilfe von Worten in eine Art Anleitung umwandeln.
Im Grunde ist das Ganze einem Kochrezept nicht unähnlich: Es gibt eine mehr oder minder abstrakte Anleitung und wenn man Glück hat noch ein paar illustrierende Bilder, die die Vorgehensweise klarer machen.
Das Bild, das eine Idee illustriert, sollte aber auf jeden Fall aus der Idee selbst heraus geboren sein. Denn ein Rezept, das zwar dekorativ bebildert ist, bei dem aber keines der Bilder irgendetwas mit dem zu kochenden Gericht zu tun hat, ist verwirrend. Das Bild sollte die Idee ausdrücken und dem Betrachter so den Zugang zum abstrakten Ideengehalt der Anleitung erleichtern. Und wenn dieser Betrachter dann irgendwann so weit ist, dass er die Idee erfasst hat, dann braucht er das Bild nicht mehr.
All dies vorausgeschickt fing ich 2013 an, mich auf no2DO mit Piktogrammen zu beschäftigen. Mein Ziel war es, den Sinngehalt und die Energie der Trigramme, jener Kernelemente, die ein Hexagramm bilden, auf eine einprägsame und intuitive Weise zu symbolisieren. Idealerweise sollte man die Dynamik eines Hexagramms – also das Zusammenspiel der enthaltenen Energien – auf einen Blick erfassen können, und zwar ohne jedes Mal die Namen der Trigramme nachschlagen oder ihre Bedeutungen auswendig lernen zu müssen.
Und so machen die Piktogramme heute idealerweise etwas sichtbar, was sonst nur als abstrakte Idee existierten würde. Sie verdichten viele erklärende Worte in ein einziges, kraftvolles Bild. Und durch dieses Bild wird es leichter, die zugrunde liegende Idee zu erfassen, und zwar ohne dass man sich der vielen beschreibenden Worte erinnern müsste.
Trigramme mit Piktogrammen bebildert
Die Symbole, die ich 2013 für die acht Trigramme ausgewählt habe und die in meinem Empfinden die Ideen hinter den Trigrammen bebildern, entspringen meiner künstlerischen Intuition.
Kun, die Erde | Dui, der See | Li, das Feuer | Sun, der Wind/Baum |
Qian, der Himmel | Zhen, der Donner | Gen, der Berg | Kan, das Wasser |
Meine Wahl fiel damals auf die Gärtnerin, das Mädchen, das Tauben füttert, den Phoenix, den Vogel-Reiter, den Bogenschützen, den keimenden Sämling, den Meditierenden und einen, der einen Abgrund überschreitet – und meine Wahl blieb seither dabei. Auch bei der Überarbeitung der Piktogramme im Jahr 2024, die ich gemeinsam mit einer talentierten Designerin vorgenommen habe, blieb diese ursprüngliche Symbolik erhalten. Wir haben die Piktogramme visuell neu gestaltet, aber die Essenz, die diese Symbole seit 2013 tragen, bewusst beibehalten.
Eine Frage, die wir uns während des Neugestaltungsprozesses 2024 gestellt haben, war, ob es sinnvoll wäre, nicht nur das obere und untere Trigramm eines Hexagramms, sondern auch die beiden Kernzeichen mit passenden Piktogrammen zu versehen. Schließlich prallen in einem Hexagramm nicht einfach nur zwei Energien aufeinander, sondern das Hexagramm zeigt, wie sich das untere Trigramm in das obere verwandelt, ein Übergang , der in den beiden Kernzeichen stattfindet.
Am Ende entschieden wir uns jedoch dagegen, auch die Kernzeichen zu bebildern. Denn ein Hexagramm mit vier Piktogrammen (unteres Trigramm [beim Hexagramm 11 – der Friede wäre dies Qian, der Himmel], erstes Kernzeichen [Dui, der See], zweites Kernzeichen [Zhen, der Donner], oberes Trigramm [Kun, die Erde]) wäre visuell überladen und damit unübersichtlich geworden.
Die Piktogramme innerhalb der Grundmatrix
Als Gedankenstütze für fie interessierten Anwender von no2DO könnte man nun nicht nur die einzelnen Hexagramme, sondern auch die Grundmatrix der Trigramme (siehe Interpretationsmodell) mit den Piktogrammen zu bebildern:
Daraus ergibt sich für das Hexagramm 11 – der Friede beispielsweise folgende Darstellung:
Die Frage ist nun, ob eine Darstellungsweise mit Hilfe von Piktogrammen den Sinngehalt eines Hexagramms und die in ihm enthaltenen Energien für den Nutzer tatsächlich leichter zugänglich macht. Oder, anders gefragt: Kann der Betrachter das Zusammenspiel der Energien eines Hexagramms dank der Piktogramme unmittelbar erkennen und sich so – auf einen Blick! – eine ungefähre Vorstellung von dem Weg machen, den das Hexagramm zeigt?
Egal wie die Antwort im Einzelfall ausfallen mag, eines ist sicher: Man kann man die Verwendung von Piktogrammen als eine Referenz und Annäherung aus Westen an die Ursprünge des Buches der Wandlungen begreifen. Denn das I Ching wurde ursprünglich auf Chinesisch verfasst, einer Sprache, in der (Schrift-)Zeichen eine tragende Rolle spielen.
Spielen wir also weiter.
Und prüfen wir diese Art, das I Ging zu interpretieren, weiter.
Bis wir eines hoffnungsvollen Tages die Fischreuse loslassen können.
Weil wir den Fisch gefangen haben.
Quellenverzeichnis
— Zimmermann, Georg. 2007. I Ging – Das Buch der Wandlungen. Düsseldorf: Patmos.