Hier. Jetzt. In diesem Moment ist es klug, uns in unsere eigne Wurzel zurückzuziehen. Zurückzuziehen von der Welt. Den Blick nach innen zu wenden. Wie eine Pflanze, im Winter. Nichts tun. Diesen Moment gehört allein uns. Wir schöpfen Kraft. Wie eine Welle, die sich ins Meer zurückzieht und dort Energie zu sammelt. Und auch wenn es für die Außenstehenden so aussehen mag, als würden wir kapitulieren – wir kapitulieren nicht. Wir sammeln unsere Kraft. Wir konzentrieren unsere Kraft. Im Nicht-Tun (Wu Wei), werden wir mit allem versorgt, was wir in diesem Moment brauchen. Und lassen vielleicht noch ein paar alte, überflüssige Dinge / Gedanken / Haltungen fahren… bevor wir kraftvoll ins Leben zurückstürzen.
Fragestellungen
- Eine Nutzerin konkretisiert ihre Frage*: „Was hat es [meine Situation] Gutes und wie geht es weiter?“ Hierauf antwortet das I Ging mit 20 – die Betrachtung.
- Ein Nutzer fragt: „Wie wird sich mein Blog entwickeln?“
- Ein Nutzer fragt: „Soll ich meine Kräfte und Erfahrungen bündeln und doch noch mal richtig Karriere machen? Oder soll ich sie nutzen und den verschiedenen spannenden Richtungen Raum lassen?“
- Die Frage eines anderen Nutzers lautet: „Wie gehe ich mit dem Schmerz der Trennung meiner Partnerschaft um?“
* Die ursprüngliche Frage der Nutzerin lautete: „In welcher Situation befinde ich mich?“ und sie erhielt darauf als Antwort 12 – die Stockung. Es ist erstaunlich, dass die beiden Zeichen, 12 – die Stockung und 20 – die Betrachtung, große Übereinstimmung aufweisen: nur ein einziger Strich, der 4., variiert. In der Stockung (Zeichen 12) ist es ein Yang-Strich (durchgezogene Linie), in der Betrachtung (Zeichen 20) ein Yin-Strich (durchbrochene Linie). Das bedeutet für die Analyse des Zeichens 20 – die Betrachtung, dass Kun, die Erde nun sowohl das untere Trigramm als auch das erste Kernzeichen bildet und das Hexagramm in Sun, der Wind / Baum als oberem Trigramm endet.
Fallstudie
Hexagramm 20 – die Betrachtung beginnt mit Kun und weist damit auf den Ort bzw. die Situation hin, an/in dem/der wir uns augenblicklich befinden. Kun lädt uns zu gründlicher Bestandsaufnahme ein: Das Hier und Jetzt zählen, das bereits Erreichte, der eigene, sichere Stand, das Gefühl, getragen zu sein, gehalten zu werden. Dieser, meist tatsächlich sehr greifbaren Fakten sollten wir uns gelegentlich gewahr werden – um sie uns als Kraftquelle für unseren weiteren Weg zu erschließen.
Während ich mit der Nutzerin sprach, fiel mir ein Bild ein, um Kun, bzw. das doppelte Kun im Zeichen 20 – die Betrachtung zu beschreiben: es ist das einer Welle, die ins Meer zurück rollt, sich dort konzentriert und neue Kraft zu schöpft.
Wenn wir am Strand stehen, nehmen wir meist nur wahr, wie die Wellen über den Sand lecken, vorandrängend, kraftvoll, neues Terrain erobernd. Bis sie dann plötzlich und unvermutet in sich zusammenfallen, zusammenbrechen und sich zurückziehen. Den Wendepunkt der Wellenbewegung, an dem der Rückzug beginnt, nehmen wir, Landbewohner, gerne als eine Art von Kapitulation wahr, genau wie wir dazu tendieren jedwedes Zurückziehen als Kapitulation (miss-) zu verstehen.
Ist aber ein Rückzug in die eigene Wurzel, in den eigenen Ursprung, wirklich Kapitulation? Um beim Bild der Welle zu bleiben: auch bei einem Tsunami weicht das Meer zurück und gibt Land frei – um dann mit urgewaltiger Kraft nach vorne zu schießen. Wer diesen Rückzug für Kapitulation hält, ergeht sich möglicherweise in einer tödlichen Fehleinschätzung.
Die durch das doppelte Kun, die Erde (unteres Trigramm und erstes Kernzeichen) angedeutete Aufforderung, uns an unseren eigene Ursprung als Quelle der Kraft zurückzuziehen und dabei still zu werden, bedeutet also keinesfalls Schwäche. Viel eher ist eine Innenschau gemeint, von der das Umfeld ausgeschlossen bleibt. Es ist ein privater Moment, ein intimes Selbstgespräch, von dem kein einziges Detail je nach außen dringen wird – bis zu dem Moment, wenn man irgendwann – selbstbestimmt – klar und äußerst kraftvoll wieder in die Welt tritt.
Das doppelte Kun wandelt sich in der Folge zu Gen, der Berg (zweites Kernzeichen). In unserem Gespräch vertieften wir, was mit dem in Gen angedeuteten Loslassen bzw. Abgrenzen wohl gemeint sein könnte und werden u. a. auf kulturell tradierte Kriterien zur Beurteilung von Erfolg aufmerksam. Im konkreten Fall der Nutzerin ist es so, dass sie diese traditionellen Kriterien aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung zwar in Frage stellt, ihnen aber in ihrer Selbsteinschätzung weiterhin Gültigkeit zumisst. Ihre persönliche Schlussfolgerung ist konsequenterweise, in Zukunft die Wertmaßstäbe, die sie selbst auf ihrem (Lebens-)Weg für richtig erkannt hat, verstärkt in ihr Selbst- und Weltbild einfließen zu lassen.
Das Zeichen 20 – die Betrachtung mündet im oberen Trigramm Sun, der Wind / Baum, einem nur scheinbar sanften, tatsächlich aber unerbittlichen Wachstum von Innen heraus. Hier kommt mir wieder das Bild der Welle – vielleicht sogar des Tsunami – in den Sinn: tief im Meer ist etwas passiert, die Richtung der Welle hat sich unbemerkt geändert und sie strebt jetzt wieder auf das Land zu. Wie stark sie wachsen, wie sehr sie ihre ureigenen Erkenntnisse und Erfahrungen ins Werk setzen wird, hängt davon an, wie viel Kraft sie in ihrem Rückzug gesammelt hat.
Debra Kaatz schreibt zu MA43 Xian Gu:
Valleys open themselves to what comes… By doing nothing but by being receptive, the valley is given what it needs. Xian Gu is falling into this valleys. It is what happens when the fruits ripen… The valley also receives the movement of the heavens and all its inspiration and grows in ways it could not imagine… Here the vision and burst of energy that comes with the spring can open our eyes and help us see the world afresh. Kaatz 2005
Die aktuelle Interpretation finden Sie hier: https://www.no2do.com/hexagramme/888877.htm
Quellenverzeichnis
— Kaatz, Debra. 2005. Characters of Wisdom: Taoist Tales of the Acupuncture Points. The Petite Bergerie Press.